Zugehörigkeit statt Ausgrenzung: Perspektiven aus der Fachdebatte zu sexualisierter Gewalt
18.12.2025Was ist das Gegenteil von Scham? Nicht Stolz, sondern Zugehörigkeit. Wie Scham funktioniert, wie sie Betroffene sexualisierter Gewalt ausgrenzt, Täter schützt und Machtverhältnisse festigt, darum ging es gestern (Mittwoch, 17. Dezember 2025) bei einer hybriden Fachtagung der Zentralstelle der Landesfrauenbeauftragten mit über 1.300 Teilnehmenden, davon 250 in Präsenz im Forum K. "Die Scham muss die Seite wechseln – aber wie?", lautete der Titel der Veranstaltung und zugleich die zentrale Frage, auf die zahlreiche Fachleute verschiedenster Professionen Antworten und konkrete Hinweise für Veränderungen gaben.
Dr. Monika Hauser, Gründerin der Frauenrechtsorganisation medica mondiale erklärte: "Scham ist eine gesellschaftlich produzierte Emotion, die Täter schützt und patriarchale Strukturen stärkt." Vergewaltigungsopfer zu fragen, wie sie gekleidet waren und ihnen damit eine Teilschuld zuzuweisen, zähle zu den "tiefsten Formen der Beschämung", so Hauser. Neben dieser Täter-Opfer-Umkehr sei die Ausgrenzung der Betroffenen, die Scham erst entstehen lässt, sowie die Entsolidarisierung unter Frauen sehr schmerzhaft. Hauser entlarvte diesen Mechanismus als Schutzversuch der anderen: Wer das Leid der Betroffenen negiert und ignoriert, wähnt sich in vermeintlicher Sicherheit. Der Bewegung #metoo und dem Pelicot-Prozess sprach Hauser "großen Einfluss und tektonische Verschiebungen" zu: "Wenn tausende Frauen sprechen, gerät die Logik der individuellen Beschämung ins Wanken." Scham als Machinstrument: Die Pädagogin Loraine Dabaly Rehm und die Politologin Nora Kellner diskutierten, welche Zuschreibungen, Scham, aber auch Ermächtigungspotenziale in den Begriffen "Opfer", "Betroffene" oder "Überlebende" stecken und waren sich einig, dass nur die Person selbst, die sexualisierte Gewalt erfahren hat, über den für sie passenden Begriff entscheiden kann.
Es wird immer wieder dazu aufgefordert, das Tabu zu brechen und über sexualisierte Gewalt zu sprechen. Aber Betroffenen werde nicht zugehört, mehr noch: "Sie werden systematisch zum Schweigen gebracht", so die These der Autorin und Podcasterin Lilian Schwerdtner. "Wenn Betroffene sich zu Wort melden, wird schlecht mit ihnen umgegangen, ihre Glaubwürdigkeit wird in Frage gestellt – weil es so schlimm ist, ihnen zuzuhören." Schwerdtner nennt das die "Entstimmlichung" und Pathologisierung der Betroffenen und betonte: "Es gibt ganz viele Betroffene, die sich nicht schämen. Aber es gibt ein krasses System der Schamerwartung." Dem entgegen setzt sie solidarische Räume: "Es sind nicht die Betroffenen, die handeln müssen, sondern das Umfeld: Es muss zuhören, aushalten und ertragen."
Aus der Arbeit mit Betroffenen berichteten Volker Mörchen vom Bremer Jungenbüro und Karima Stadlinger, ehemalige Mitarbeiterin der Beratungsstelle Schattenriss. Für viele Jungs, die sexualisierte Gewalt erfahren haben, sei nicht die Tat das Schlimmste, sondern dass andere davon erführen, schilderte Volker Mörchen die Wirkmacht vorherrschender Männlichkeitsbilder. So blieben viele mit ihren Erfahrungen allein – durch Scham. "Das wirksamste Mittel dagegen ist Zugehörigkeit, zu zeigen: Du bist nicht allein" und Räume hierfür wie das Jungenbüro. Karima Stadlinger nannte Scham auch einen "Akt der Selbstermächtigung", nämlich "den Versuch etwas weiter zu kontrollieren in einer nicht kontrollierbaren Situation." Sie versuche Betroffenen zu vermitteln, dass jede Reaktion auf etwas so Überwältigendes wie einen sexualisierten Übergriff normal sei.
"Schamgefühle müssen sich in Schuldgefühle verändern", erklärte Psychologe Dr. Jonas Kneer vom Präventionsprojekt "I can change" in Hannover, das sich an Menschen richtet, die sexuelle Übergriffe begangen haben oder begehen könnten. "Nur dann kann Verantwortung übernommen werden" und die Auseinandersetzung mit den eigenen Taten und Bedürfnissen könne beginnen, so Kneer. Eine Folge von Scham sei, sich nicht zu zeigen und sich nicht auseinander zu setzen. Die meisten Täter tragen keine Konsequenzen davon, zitierte der Psychologe die geringe Zahl der Anzeigen sexualisierter Übergriffe und die noch geringere Anzahl der Verurteilung. Scham geradezu als "Ermöglichungsbedingung" für Täter erläuterte die Sozialwissenschaftlerin Dr. Laura Wolters vom Hamburger Institut für Sozialforschung. Sie geht der Frage nach, "wie sich Täter zu Übergriffen ermächtigen". Indem sie ihre Übergriffe als Bestrafung eines vermeintlichen Fehlverhaltens der Frauen verstehen. Die Scham der Betroffenen ist hier hilfreiches und erst ermöglichendes Instrument.
Was muss geschehen, damit die Scham die Seite wechseln kann? Hierüber diskutierten die Expertinnen und Experten mit Claudia Bernhard, Senatorin für Gesundheit, Frauen und Verbraucherschutz. Sie erläuterte die Arbeit der Gewaltschutzambulanzen in Bremen und Bremerhaven sowie des Betroffenenbeirats, der die Umsetzung des Bremer Landesaktionsplans gegen Gewalt gegen Frauen begleitet. Die Forderungen und Anregungen der Fachwelt: Der inzwischen ausgelaufene staatliche Hilfsfonds für Opfer sexuellen Missbrauchs müsse dringend fortgesetzt werden. Sexualerziehung müsse reformiert, der Gedanke des Aushandelns von Sexualität müsse hier viel mehr Raum einnehmen. An Schulen müsse mehr über sexuelle Gewalt, Grenzverletzungen und darüber, wie sie benannt werden können, gesprochen werden, aber eben auch über einen positiven Umgang mit der eigenen Sexualität und Zustimmung. Queere Menschen brauchen Schutzräume und mehr Angebote. Fachpersonal von Behörden, insbesondere der Justiz, müsse besser qualifiziert werden im Umgang mit Betroffenen sexualisierter Gewalt.
"Das Eingeständnis meiner Ohnmacht ist in ihren Händen nicht sicher aufgehoben." Auf das Statement von Laura Leupi, die aus dem Buch "Das Alphabet der sexualisierten Gewalt" vorlas, bezog sich die Fachrunde mehrmals, wenn es um die offenen und subtilen Mechanismen von Scham, Schuld und Schande ging. Neben Laura Leupi beeindruckte die afghanisch-deutsche Schriftstellerin und Poetry-Slammerin Sadaf Zahedi die Zuhörenden mit eindringlichen Texten über Leben und Leid von Mädchen in Afghanistan.
"Sexualisierte Gewalt kann prägen – aber das Erlebte definiert nicht die Betroffenen", so hatte es Landesfrauenbeauftragte Bettina Wilhelm zu Beginn des Fachtags formuliert, den sie gemeinsam mit Bürgerschaftspräsidentin Antje Grotheer eröffnet hatte. Wilhelm: "Welche Folgen sexualisierte Gewalt hat, hängt von vielen verschiedenen Faktoren ab. Es ist die Aufgabe unserer ganzen Gesellschaft, die Stigmatisierung zu beenden und mit den vorherrschenden Mythen aufräumen. Neben mehr Aufklärung, um Betroffene besser zu schützen, braucht es einen gesellschaftlichen Wandel der Geschlechterbilder."
Moderiert wurde die Veranstaltung von der Antidiskriminierungsexpertin Gülcan Yoksulabakan-Üstüay und der ZGF-Referentin Silke Ladewig-Makosch, die den Fachtag initiiert, konzipiert und organisiert hatte.
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Susanne Gieffers, ZGF Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Tel.: (0421) 361-6050, E-Mail: presse@frauen.bremen.de