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Senatskanzlei

Die Senatskanzlei und Radio Bremen teilen mit:
Günter-Grass-Stiftung Bremen wird gegründet

20.10.2000

GÜNTER-GRASS-STIFTUNG BREMEN
AUDIOVISUELLES ARCHIV UND REZEPTIONSGESCHICHTLICHE FORSCHUNGSSTELLE BEKOMMT SITZ IN DER BREMER INNENSTADT

 Bürgermeister Scherf, Radio Bremen Intendant Glässgen und Grass-Lektorin Daniela Hermes vom Steidl Verlag unterzeichnen die Stiftungsurkunde
Bürgermeister Dr. Henning Scherf und Günter Grass bringen das Schild mit dem Namen der Stiftung an 

Der Hintergrund
Grundlage der Rezeption eines jeden Autors ist die genaue Kenntnis seines Werkes. Bei Günter Grass, einem politisch engagierten Schriftsteller mit großer Medienpräsenz, geht dies weit über das literarische Schaffen im engeren Sinne hinaus. Nicht nur mit seinen gedruckt vorliegenden Texten wirkt Grass in die literarische und gesellschaftliche Öffentlichkeit hinein, sondern auch durch das gesprochene Wort und seine Präsenz in den elektronischen Medien.

In Lesungen trägt Grass seine Texte vor; in Interviews und Gesprächen erläutert und kommentiert er sein Werk, äußert sich zu Fragen der Poetik und Ästhetik sowie zu den geistigen Wurzeln seines Schaffens; immer wieder bezieht er Stellung zu gesellschaftspolitischen und tagesaktuellen Fragen. Hunderte von Bild- und Tonbeiträgen aus Hörfunk und Fernsehen belegen sein öffentliches Auftreten seit mehr als vier Jahrzehnten. Zumindest ebenso zahlreich wie die audiovisuellen Dokumente von Günter Grass selbst sind Ton- und Filmbeiträge zur Rezeption seines Werkes als Schriftsteller und Bürger, die gleichberechtigt neben der Rezeption in den Printmedien steht.

Die audiovisuellen Dokumente bezeugen einerseits die Grasssche Selbst- und Weltdeutung und bewahren seine Stimme und Erscheinung. Andererseits liefern sie einen wichtigen Baustein zu einer hörbaren Literatur- und Debattengeschichte der Bundesrepublik Deutschland und erzählen nicht zuletzt ein Stück Mediengeschichte.

Derzeit sind Ton- und Filmdokumente von und über Günter Grass im Gegensatz zu den gedruckt vorliegenden Texten für den Grass-Forscher wie für die interessierte Öffentlichkeit in der Regel nur schwer zugänglich: Sie liegen verstreut in den verschiedenen Rundfunkanstalten, in öffentlichen Archiven und Bibliotheken, in Literaturhäusern und bei Privatpersonen. Sie sind bisher nicht zentral erfasst und allenfalls in Ansätzen inhaltlich erschlossen. Ihre Rezeption hat noch nicht einmal begonnen.

In der Zukunft wird sich die Zugangsschwelle zu den audiovisuellen Zeugnissen noch erhöhen, denn die Ton- und Bildträger, auf denen die Dokumente ursprünglich archiviert wurden (Tonband, Schallplatten, Audio-Cassetten, VHS, Betamax etc.), sind zum Teil schon heute nicht mehr auf dem Massenmarkt erhältlich oder werden es in absehbarer Zukunft nicht mehr sein. Sollen diese Dokumente für die Forschung und die Öffentlichkeit erhalten bleiben, ist eine zentrale Bestandssicherung und -bearbeitung unerlässlich.

Die Stiftung und ihre Arbeitsfelder
Repräsentanten der Freien Hansestadt und Bremer Unternehmer, Radio Bremen und der Steidl Verlag, Göttingen, haben sich deshalb zusammengefunden, um eine »Günter-Grass-Stiftung Bremen – Audiovisuelles Archiv und rezeptionsgeschichtliche Forschungsstelle« zu gründen. Die Stiftung wird ihr Domizil im Herzen der Stadt Bremen haben. Ziel ist es, am Sitz des Archivs sowohl einen Ort der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Werk des Nobelpreisträgers zu schaffen als auch Möglichkeiten für die lebendige Begegnung mit Literatur und intellektueller Öffentlichkeit zu bieten.

Im Moment befindet sich die Stiftung in Gründung, die Verträge mit den Stiftern sind in Vorbereitung, mit den verschiedenen Kooperationspartnern finden intensive Gespräche statt, die sich der Vertragsreife nähern. Der Arbeit der Gründungskommission liegt das folgende Konzept zugrunde, wobei vor allem Detailfragen der einzelnen Stiftungsbeiträge sowie Urheberrechtsfragen noch der Klärung bedürfen. Dem jeweilig verfügbaren Stiftungskapital entsprechend, wird der Aufbau der Stiftung sukzessive erfolgen.

Die Stiftung sammelt, dokumentiert und erschließt das audiovisuelle Werk von Günter Grass – seine Lesungen, Reden, Interviews und andere Beiträge in Hörfunk und Fernsehen sowie auf weiteren Ton- und Bildträgern – und macht es der interessierten Öffentlichkeit zugänglich. Darüber hinaus setzt sich die Stiftung mit dem Leben des Schriftstellers und Bürgers Günter Grass, seinem literarischen und bildkünstlerischen Werk auseinander und erforscht seine nationale wie internationale Wirkungsgeschichte im Kontext der Bundesrepublik Deutschland (Literatur, Kultur und Politik) und im Rahmen der Weltliteratur, soweit sie in audiovisuellen und in Printmedien dokumentiert ist, bzw. unterstützt die Erforschung und Auseinandersetzung.

Stifter sind Privatpersonen, Unternehmen sowie Institutionen, Repräsentanten der Freien Hansestadt Bremen, Radio Bremen und der Steidl Verlag. Die Freie Hansestadt Bremen wird gemeinsam mit privaten Sponsoren für die notwendigen Räume sorgen. Radio Bremen als ARD-Anstalt wird die im Bereich der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten entstandenen Ton- und Filmdokumente von und zu Günter Grass erschließen und dokumentieren. Darüber hinaus will Radio Bremen Hilfestellung bei der hörfunk- und fernsehtechnischen Ausstattung leisten. Der Steidl Verlag will die Günter Grass betreffenden Teile seines Pressearchivs und seines Bucharchivs einbringen. Für Ausstellungen steht der Stiftung die »Grafische Sammlung Günter Grass« des Steidl Verlages zur Verfügung. Private Stifter und Institutionen sollen Beiträge zum Stiftungsvermögen leisten, aus des-sen Erträgen die Stiftung ihre Aufgaben erfüllt.

Als Kooperationspartner kommen vor allem die Berliner Akademie der Künste, das Deutsche Literaturarchiv Marbach, das Heinrich- und Thomas-Mann-Zentrum Lübeck sowie das Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg mit ihren bestehenden bzw. zukünftigen Grass-Sammlungen in Frage. Mit dem Goethe-Institut München sowie seinen Außenstellen soll eine Kooperation in bezug auf die internationale Grass-Rezeption zustande kommen. Auch die ausländischen Verlage, die Werke von Günter Grass publizieren, sollen für eine Zusammenarbeit gewonnen werden. Wich-tige Koo-perationspartner sind zudem das Literarische Colloquium Berlin (LCB), die lite-raturwissenschaftlichen und medienkundlichen Fachbereiche der Universität Bremen und der International University Bremen (IUB) sowie der Gustav Kiepenheuer Bühnenvertrieb Berlin, der die Bild- und Tonrechte von Günter Grass betreut. Darüber hinaus werden Kooperationen mit industriellen Partnern angestrebt, insbesondere im Bereich Informationstechnologien und Multimedia.

Aufgaben der Stiftung im einzelnen sind die Sammlung, Erfassung und Erschließung des audiovisuellen Werkes von Günter Grass sowie der Rezeptionsdokumente in den elektronischen und den Printmedien, unter anderem zur Vorbereitung einer »Werkausgabe des gesprochenen Wortes«. Die Stiftung wird auch eine Sammlung von Fotografien, Karikaturen und sonstigen Bilddarstellungen, soweit sie zur Grass-Rezeption gehören, aufbauen. Die Stiftung erstellt eine Bibliographie der selbständigen und unselbständigen Sekun-därliteratur zu Günter Grass, wobei im deutschsprachigen Bereich Vollständigkeit angestrebt wird und in ausgewählten Fremdsprachen die wichtigste Forschungsliteratur erfasst werden soll. Die Stiftung vermittelt Erschließungsdaten und Forschungsergebnisse lokal und global auf der jeweils am weitesten fortgeschrittenen technischen Plattform. Dabei wird derzeit vor allem an den multimedialen Daten- und Informationsaustausch über das Internet gedacht. Inwieweit über das Internet für einen ausgewählten Benutzerkreis mit abgestuften Nutzungsrechten Zugang zu digitalisierten Dokumenten aus der Sammlung der Stiftung geschaffen werden kann, bedarf noch der rechtlichen Klärung.

Ein lebendiger Ort kultureller Begegnung
Die Räume der Stiftung sollen nicht Fachwissenschaftlern vorbehalten bleiben, sondern mittelfristig einem breiten Publikum – Schülern und Studenten, Grass-Lesern jeden Alters, Bremern und Touristen – im Herzen der Stadt eine lebendige Begegnung mit der Literatur ermöglichen, durch Dauer- und Wechselausstellungen, Lesungen und Diskussionen. Das Goethe-Institut wird ein Exemplar seiner Dokumentation »Günter Grass. Über das Zeichnen und Schreiben«, die auf 30 großformatigen Bild- und Texttafeln eine Einführung in das Leben und Werk des Nobelpreisträgers bietet, der Stiftung zur Verfügung stellen. Das Medium »Buch« und dessen Herstellungsprozess am Beispiel von Grass-Werken soll Thema einer technikgeschichtlichen Darstellung aus Exponaten des Steidl Verlages sein, während Radio Bremen die Entstehung einer Radiosendung mit Grass bildhaft vor Augen führen wird. Wechselausstellungen bieten die Möglichkeit, den bildenden Künstler Günter Grass zu präsentieren, unter anderem anhand der »Grafischen Sammlung Günter Grass« des Steidl Verlages oder mit dem »Calcutta-Werkblock«, der für die Hansestadt von der Bremer Kunsthalle betreut wird..

Die Organisationsform der Günter-Grass-Stiftung Bremen wird eine rechtsfähige Stiftung des Bürgerlichen Rechts mit Sitz in Bremen sein. Dem Kuratorium der Stiftung gehören Vertreter der Stiftungsträger sowie der Familie Grass an. Gedacht ist ferner an die Gründung eines Beirates, in den das Kuratorium besonders qualifizierte Personen des öffentlichen, des kulturellen und wissenschaftlichen Lebens berufen kann, darunter auch Vertreter der verschiedenen Kooperationspartner.

Finanziert wird der laufende Betrieb der Stiftung aus den Erträgen des Stiftungsvermögens. Der sukzessive Ausbau der Stiftung folgt der Erweiterung des vorhandenen Grundstocks an Stiftungskapital durch Zustiftungen (finanzielle Mittel, Sachmittel usw.).

Das Datenbank-Projekt
Herzstück des audiovisuellen Archivs ist eine Datenbank, die alle Ton- und Filmdokumente von, mit und über Günter Grass erfasst, erschließt und zugänglich macht. Sie bietet als Bestandskatalog des Archivs eine Platt-form für den Zugang zu den Dokumenten und soll als eine Schnittstelle zu gedrucktem Werk und rezeptionsgeschichtlichen Printmaterialien ausgebaut werden. Die Datenbank stellt zudem eine bibliographische und materielle Grundlage für audiovisuelle Grass-Publikationen und für Forschungsarbeiten zur Rezeptionsgeschichte dar. Mittelfristig wird der Zugriff auf die Datenbank über das Internet möglich sein.

Die Erschließung erfolgt, indem die Audio- und Videodokumente abgehört bzw. gesichtet werden, um sie in der Datenbank zusätzlich zur formalen Erfassung inhaltlich zu beschreiben und zu kategorisieren (Abstracts, Verschlagwortung) sowie unter technischen Ge-sichtspunkten zu beurteilen (Tonqualität, Zustand des Trägermaterials). Stärker noch als im Printbereich erleichtert eine inhaltliche Voraberschließung die Benutzung, denn ein Audio- oder Bilddokument kann nicht wie ein Buch aus dem Regal genommen und ohne technische Hilfsmittel »quergelesen« werden. Zudem ist gerade im Hörfunkbereich der ARD-Anstalten die Mehrfachverwertung von Originaldokumenten vielfach geübte Praxis.

Eine digitalisierte Version der audiovisuellen Dokumente soll für definierte Benutzerkreise über die Datenbank zugänglich sein. Eine Arbeit mit den Dokumenten wird somit vor Ort im Archiv und eventuell nach jeweiliger Klärung der Rechte auch per Internet unmittelbar möglich.

Eine Schnittstelle der gesamten Grass-Forschung zu werden ist die langfristige Perspektive der Datenbank. Im Rahmen der Kooperation mit anderen Institutionen, die sich der Sammlung und Pflege von Grass-Archivalien widmen, sollen über die Datenbank der Günter-Grass-Stiftung Bremen auch die Bestände der Vertragspartner recherchiert werden können. Zudem ist es dank der flexiblen Datenbankstruktur möglich, zusätzlich die fiktionalen und nichtfiktionalen gedruckten Texte sowie die Werke des bildenden Künstlers Grass bibliographisch zu erfassen, die in Printmedien veröffentlichten Grass-Interviews und ausgewählte Zeitungs- und Zeitschriftendokumente der Rezeptionsgeschichte zu erschließen und damit an einem einzigen Ort einen Zugang zum gesamten Grassschen Wirken zu schaffen.

Modellcharakter kommt der Datenbank zu, weil sie mit ihrer Struktur mutatis mutandis auch auf andere Autoren übertragbar ist. Die Rezeptionsgeschichte ist nicht nur im Fall von Günter Grass noch nicht im Zeitalter elektronischer Medien angekommen: Die Analyse von Werk und Wirken von Schriftstellern beschränkt sich in der Regel auf das gedruckte Wort. Ihre Rolle in Hörfunk und Fernsehen bleibt bisher weitgehend unbeachtet.

Die Arbeit am Material
Derzeit befindet sich die Datenbank im Aufbau. Erfasst und gesichtet wurden bisher vierhundert von einigen tausend Audiodokumenten. Die Struktur der Datenbank wird laufend den Erfordernissen angepasst.

Mit MS-Access liegt der Datenbank ein Main-Stream-Datenbankformat zugrunde, das größtmögliche Flexibilität für eine spätere Portierung in andere Datenbankformate bietet und damit den Erfordernissen einer weltweiten Online-Recherche Rechnung trägt. Schon heute bestehen Abfragemöglichkeiten über einzelne und verknüpfte Felder sowie über den Volltext; der Datenbestand kann beliebig sortiert ausgegeben werden, zum Beispiel nach Entstehungsdatum, produzierender Anstalt etc.

Die Struktur der Datenbank ist darauf angelegt, einen umfassenden formalen wie inhaltsanalytischen Zugriff auf die Audio- und Filmdokumente zu ermöglichen. Jeder Datensatz beschreibt ein Audio- oder Videodokument und umfasst insgesamt sieben »Registerkarten«.

Formale Erfassung (1, 2): Die Registerkarte (1) (»Titelaufnahme«) enthält die notwendigen Informationen für den Bestandskatalog des Archivs. Auf Registerkarte (2) (»Titelaufnahme historisch«) werden die Daten zusammengeführt, die ein Auffinden des Originaldokuments ermöglichen (Urtitel, Archivstandort, Sendereihe etc.).

Inhaltliche Beschreibung (3, 4, 5): Die Registerkarte »Annotation« (3) ermöglicht über die Felder »Kontext« (zur historischen Situierung), »Manuskript« (Textvorlage) und »Pressematerial« eine Verzahnung mit dem gedruckten Werk und der Rezeptionsgeschichte und beurteilt die Tonqualität. Die Registerkarte »Schlagworte« (4) verzeichnet Personen, Werke und Sachbegriffe, die im Dokument vorkommen, und dient dem Aufbau eines Personen-, Werk- und Sachregisters für den gesamten Dokumentenbestand des Archivs. Ein »Abstract« (5) zum jeweiligen Dokument schließt den inhaltsanalytischen Zugriff ab.

»Bearbeitungsvermerke« (6) halten den Stand der Erschließung fest und ermöglichen eine Gewichtung und Systematisierung im Gesamtbestand des Archivs, auch im Hinblick auf die geplante »Werkausgabe des gesprochenen Wortes«. Mittelfristig ist über »Ausgabe« (7) für einen definierten Benutzerkreis der Zugriff auf die digitalisierten Ton- und Videodokumente möglich.