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    Rede von Innensenator Dr. Bernt Schulte

Der Senator für Inneres und Sport

150 Jahre bremische Statistik – ein Gründungsakt mit Weitblick
Rede von Innensenator Dr. Bernt Schulte

28.03.2000

Kaum jemand weiß heute noch, dass das Statistische Landesamt Bremen keineswegs die Erfindung eines preußischen Beamten war, sondern seinen hanseatischen Ursprung – wie vieles andere in unserem Land auch - dem Engagement der Bürger Bremens und seiner Kaufleute verdankt.

Der Antrag des "Collegium Seniorum" der bremischen Kaufmannschaft an den Präsidenten des Senats zur Gründung eines "Handelsstatistischen Bureaus" datiert vom 17. April 1846 und zeugt von erstaunlichem Weitblick. In diesem ersten Dokument der bremischen Statistik werden Gründe für die Notwendigkeit eines besonderen Statistischen Büros benannt, die noch heute Bestand haben. Und es werden - vier Jahre vor der Gründung des Bureaus im Jahre 1850 - bereits einige wesentliche Probleme umrissen, die das Wirken der amtlichen Statistik in den folgenden eineinhalb Jahrhunderten begleiteten – Fragestellungen, welche die Statistiker von heute ohne Mühe in moderne Kategorien übersetzen können, für die sich in der Zwischenzeit lediglich neue Begriffe eingebürgert haben.

Überraschend modern zeigt sich der Geist der Begründung des Collegium Seniorum für die Notwendigkeit der neuen Einrichtung. Wer erwartet, dass hier kurzsichtige Interessen im Sinne von Gewinn- und Verlustüberlegungen bremischer Pfeffersäcke die Feder führten, der irrt. Der Anspruch an die neue Institution ist universell. Er atmet den Geist der Aufklärung und zeugt vom Selbstbewusstsein der bremischen Kaufleute, das – zwei Jahre vor der demokratischen Revolution von 1848 – sicherlich auf einem Höhepunkt angelangt war. "Nur vom beschränkten Egoismus" – so die Elderleute der Handelskammer – werde die Wahrheit verkannt, dass "in der genauesten Kenntniß der Verhältnisse ... wesentlich dessen Gedeihen berufe", der Egoismus, "der dem Zufall mehr, wie der Intelligenz, sein Vertrauen schenkt, und den mächtigen Einfluß, welchen eine umfassende Übersicht sämtlicher Handelsbeziehungen der verschiedenen Länder unter sich auf den Geschäftsbetrieb eines bestimmten Handelsplatzes übt, nicht zu ermessen vermag."

Übersetzt in die schnörkellose Moderne würde man sagen: Die Verhältnisse werden zunehmend komplizierter und vielfältiger, und wer sich in dieser Welt orientieren und verantwortungsbewusst entscheiden will, braucht zuverlässige Informationen über ihren Zustand.

Immerhin scheint es aber auch Widerstände gegen diese Sicht der Dinge gegeben zu haben, denn das Collegium sah sich im Folgenden veranlasst, gegen Ansichten zu argumentieren, die Statistiken dienten "dem Gefallen an einer unpractischen Tändelei mit Zahlen und Tabellenwesen". Dem wurde entgegengehalten, dass in den großen Handelsnationen, die hier offensichtlich als Vorbild dienten – genannt werden England, Nordamerika, Frankreich und Belgien –, die Einführung der Handelsstatistik "wahrlich auf anderen Gründen ... beruht", denn schließlich werfe man "den Regierungen hier und dort den Mangel an fachkundiger Behandlung kaufmännischer Verhältnisse" vor oder es werde der "nöthige Tact ... beim Abschluss von Verträgen" vermisst; und wie ließen sich diese Übelstände anders beseitigen, "als dass man die zum Wirken in diesen Sphären Berufenen dem Handelsbetriebe näher zuführt, sie gewöhnt, die Theorie mit der Thatsache zu vergleichen, und jene nach dieser zu modificiren".

Statistik als Politikberatung können wir heute formulieren: Statistische Ergebnisse sind eine Voraussetzung dafür, dass politische Entscheidungen im Lichte harter Fakten diskutiert und die politisch Verantwortlichen an den eigenen Zielsetzungen gemessen werden können. Dies ist zwar noch nicht der Leitsatz "Statistik ist für alle da", der über der amtlichen Statistik von heute steht, doch es liegt bereits eine ganze Epoche zwischen dem Geist dieser Begründung und der Geisteshaltung, mit welcher etwa der Preußenkönig Friedrich II. gut einhundert Jahre zuvor einen der Väter der deutschen Statistik, den Berliner Feldprediger Johann Peter Süßmilch, abkanzelte. Als Reaktion auf die erste von ihm verfasste bevölkerungsstatistische Studie für Brandenburg-Preußen ließ Friedrich II ihm mitteilen, er bedanke sich zwar für seine gute Absicht, er möge jedoch in Zukunft auf solche Vorhaben verzichten, die "ein hinreichend exaktes Wissen aller Verhältnisse eines Landes erfordern und für die Einsichten, die er sich verschafft hat, gar nicht ausreichen können". Eine Geisteshaltung, die in den übrigen deutschen Staaten noch lange nicht der Vergangenheit angehörte, sondern im Gegenteil nach der Niederschlagung der Revolution von 1848/49 zu neuer Blüte gelangte. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang, dass 1852, zwei Jahre nach Gründung des bremischen handelsstatistischen Bureaus auch in Berlin ein Statistisches Bureau ins Leben gerufen wurde, allerdings unter dem Dach des "Königlichen Polizeipräsidio". Vier Jahre lang war der Berliner Polizeipräsident gleichzeitig Chef des Statistischen Amtes, bevor sich 1856 die Einsicht durchsetzte, dass ein Statistisches Amt nur als eigenständige Einrichtung existieren kann.

Dem Statistischen Bureau wird bei seiner Gründung die Aufgabe gestellt, eine genaue Übersicht des bremischen Einfuhr-, Ausfuhr- und Transithandels sowie der "Schiffahrtsgewegung" auf der Weser darzubieten. Ein Blick in das aktuelle Jahrbuch des Statistischen Landesamtes zeigt, dass diese Aufgabe nicht nur gelöst wurde, sondern dass die Aussagekraft dieser Statistiken damals wie heute hochaktuell ist. Die hier unter dem Kapitel "Außenhandel" veröffentlichten Tabellen über die Ein- und Ausfuhr sowie Durchfuhr über die bremischen Häfen nach Warengruppen, Erdteilen, Herkunfts-, Versendungs- und Bestimmungsländern dürften in ihrer Breiten- und Tiefengliederung allerdings weit über das hinaus gehen, was sich die Verfasser des Antragstextes im Jahre 1846 vorzustellen gewagt hätten.

Das Handelsstatistische Bureau wurde zunächst zwar auf Senatsbeschluss, jedoch ohne gesetzlich Grundlage geschaffen.

Aber auch ohne "Legalitätsprinzip", dem die heutige amtliche Statistik durch das Grundgesetz von 1949 unterworfen ist, wurde die bremische Handelsstatistik bereits 13 Jahre nach der Gründung des Bureaus mit dem "Gesetz über die Güterdeklaration für die bremische Handelsstatistik" vom 1. Januar 1863 auf eine gesetzliche Grundlage gestellt.

Wir wissen heute nicht, ob in den herausgegebenen Tabellen eine Geheimhaltung durchgeführt wurde, ob Tabellenfelder "ausgepunktet" wurden, weil sie nur einen Fall enthielten. Heute jedenfalls lässt das Bundesstatistikgesetz die Möglichkeit zu, den obersten Landesbehörden Ergebnistabellen zur Verfügung zu stellen, auch wenn diese nur einen einzigen Fall ausweisen, allerdings nicht für die Regelung von Einzelfällen – daher "ohne weitere Bezeichnung von Individualitäten", wie die Gründungsschrift formuliert.

Darüber hinaus wurden die Ergebnisse der Erhebungen keineswegs als "Herrschaftswissen" unter Verschluss gehalten. Im Gegenteil, die Statistiken wurden offensichtlich jedem in-teressierten Bürger überlassen, ohne dass man schon ein "Recht auf informationelle Grundversorgung" gekannt hätte, allerdings nicht unentgeltlich. Man hegte sogar die Hoffnung, durch die Herausgabe der Ein- und Ausfuhrlisten eine "die Kosten deckende Quelle" zu eröffnen. "Outputorientiertes" Verwaltungshandeln und Neues Steuerungsmodell im Jahre 1850? – Jedenfalls ein Kostenbewusstsein, welches erneut in den letzten beiden Jahrzehnten, dem Zwang der Verhältnisse – sprich der öffentlichen Haushalte – folgend, mehr und mehr in den Mittelpunkt auch der amtlichen Statistik rückte.

Die Finanzierung der Statistik dürfte im übrigen der Punkt sein, bei dem sich die Verhältnisse seither am radikalsten gewandelt haben. Glaubten die Elderleute des Jahres 1846 noch, "dass die dafür nöthigen Mittel sich sehr leicht herbeischaffen lassen", und stellte der Senat die veranschlagten 550 Taler ohne weiteres bereit, so dürfte diese Aussage uns Heutigen – Politikern wie Statistikern – wie eine Nachricht aus einer anderen Welt erscheinen. Alleine die Feststellung, dass für eine neue Statistik auch die notwendigen Mittel bereitgestellt werden, ist, wie wir alle wissen, in Zeiten des "Omnibusprinzips" beileibe keine Selbstverständlichkeit mehr. Im Gegenteil mussten die zusätzlichen Erhebungen, die in den letzten Jahren vor allem auf Veranlassung der Europäischen Union eingeführt wurden, mit zurückgehenden Budgets bewältigt werden.

Auch was die Bezahlung der Statistiker anbetrifft, konnte sich der Senat großzügig zeigen. Von dem – wohl aus der Bürgerschaft – hochgekommenen Vorschlag, man möge doch den Leiter der neuen Einrichtung "mittelst des Überschusses, welcher aus dem Debit der zu veröffentlichenden Zusammenstellungen sich ergeben möchte, für seine Bemühungen ... remuneriren" nahm der Senat Abstand und erhöhte statt dessen die beantragte "baare Remuneration" um einhundert Taler, allerdings nicht ohne ein gewisses Kosten-Leistungs-Denken, denn dies entsprach ungefähr dem bisherigen Ertrag des Verkaufs der Ein- und Ausfuhrlisten.

Vor dem Hintergrund der heutigen Diskussion um Produktgruppenhaushalt, Kosten-Leistungs-Rechnung und neuem Steuerungsmodell haben diese Überlegungen einen hohen Grad an Aktualität: Bremen braucht auch zukünftig eigene gesicherte statistische Daten. Landespolitik und insbesondere Sanierungspolitik benötigen zeitnah und detailliert eine zuverlässige statistische Basis. Die Stadt Bremen werde, so heißt es in der Gründungsurkunde, "erst dann zur vollständigen Würdigung ihrer Bedeutung gelangen, wenn sie ihre mercantile Größe in redenden Zahlen der Welt vor Augen lege". Schon die Gründungsväter des Bureaus wollten "keinen Augenblick säumen, das Auge auch auf uns speziell zu lenken, damit unser Handel überall in seinen Leistungen anerkannt werde". Wir haben heute mehr denn je Grund, unser Statistisches Landesamt Bremen wichtig zu nehmen – das nämlich hat der Blick in die Entstehungszeit des Bureaus gezeigt: Aus der Geschichte kann man lernen, aus der Statistik ebenso.

Churchills Verdikt, er glaube keiner Statistik, die er nicht selbst gefälscht habe, ist vor diesem Hintergrund eine Warnung: Statistik muss interpretiert werden. Das soll keineswegs vom Umgang mit statistischen Daten abhalten, im Gegenteil: Jeder soll sich damit beschäftigen! Er soll sich nur klar machen, worüber er dann redet.

Ich danke der Leitung und allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Statistischen Landesamtes für ihre verdienstvolle, kompetente und für die Datenautonomie Bremens so wichtige Arbeit und wünsche dem Amt auch weiterhin eine erfolgreiche Zukunft.