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Senatskanzlei

Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken 2006 an Julia Kristeva

24.11.2006

Der Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken geht in diesem Jahr an die französische Psychoanalytikerin, Philosophin und Schriftstellerin Julia Kristeva. In ihrer Begründung würdigte die Jury Frau Kristevas Fähigkeit, über die Grenzen der akademischen Disziplinen hinaus öffentlich zu denken. Julia Kristeva habe die Grenzen zwischen Psychoanalyse und politischem Denken durchlässig gemacht: Als politische Person hinterfrage sie die Evidenzen des wissenschaftlichen Diskurses, als Psychoanalytikerin und Schriftstellerin betone sie die Öffnung hin zur politischen Sphäre.

Der mit 7.500 € dotierte Preis wird am 15. Dezember 2006 um 18.00 Uhr in der Oberen Rathaushalle des Rathauses Bremen im Rahmen einer Festveranstaltung vom Präsidenten des Senats, Bürgermeister Jens Böhrnsen und Ralf Fücks, Vorstand der Heinrich Böll Stiftung an Julia Kristeva überreicht. Nach einem öffentlichen Vortrag der Preisträgerin halten Daniel Cohn-Bendit, Mitglied des Europa-Parlaments und Hannah Arendt-Preisträger 2001 sowie der ungarische Philosoph Mihály Vajda (Budapest) die Laudationes.

Kristevas Denken, in dem sich literarische, sprachphilosophische, psychoanalytische und politische Dimensionen aufeinander beziehen, greift den Ansatz Hannah Arendts auf, im Angesicht des Traditionsbruchs der Moderne eine Erneuerung des öffentlichen Denkens zu wagen. Dabei enthüllt sie Verbindungen zwischen psychoanalytischer Theorie und politischem Denken, die bisher verborgen blieben. Sie stellt zentrale Selbstverständlichkeiten des wissenschaftlichen Diskurses in Frage. Daraus entwickelt sich ein Verständnis von Politik, das unter anderem auch das „dichterische Denken“ für die politische Vorstellungswelt unserer Zeit hervorhebt und würdigt.

Julia Kristeva wurde 1941 in Bulgarien geboren, studierte Romanistik und kam 1965 im Rahmen eines französisch-bulgarischen Austauschprogramms nach Paris. Sie blieb dort und beendete ihre akademische Ausbildung mit einer Habilitation („Die Revolution der poetischen Sprache“). 1978 schloss sie ihre psychoanalytische Ausbildung ab und praktiziert seitdem als Therapeutin. Ihr Werk umfasst Arbeiten zur heutigen Psychoanalyse, zur Kultur- und Religionsphilosophie und zum Zeitgeschehen. Seit Anfang der 1990er Jahre steht Hannah Arendt im Mittelpunkt ihres politischen Denkens. Frau Kristeva erhielt zahlreiche Auszeichnungen; führende europäische und amerikanische Universitäten verliehen ihr die Ehrendoktorwürde. Zuletzt erhielt sie den renommierten norwegischen Holberg-Gedenkpreis der Universität Bergen.

Auf Deutsch sind u.a. erschienen: Die Revolution der poetischen Sprache (1978), Die neuen Leiden der Seele (1989), Fremde sind wir uns selbst (2001), Hannah Arendt – Das weibliche Genie (2002).

Der Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken wurde 1994 von Publizisten, Politikern und Wissenschaftlern in Bremen ins Leben gerufen. Er wird vom Senator für Bildung und Wissenschaft der Freien Hansestadt Bremen und der Heinrich-Böll-Stiftung finanziert. Der Preis erinnert an die deutsch-jüdische Denkerin Hannah Arendt, die 1933 aus Deutschland fliehen musste und zu den „prägenden Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts zählt“ (Rita Süssmuth); er soll die Aktualität ihres Denkens für die Diskussion von Gegenwartsproblemen fruchtbar machen. Die Grundzüge ihrer Totalitarismustheorie, ihre Überlegungen zum Verhältnis von Macht und Gewalt, die Hervorhebung politischer Neuanfänge und ihre Theorie der politischen Urteilskraft haben sich nicht zuletzt im Kontext der Ereignisse von 1989 als Schlüsselkategorien eines Denkens erwiesen, das aus den Bahnen des Gewohnten ausbricht. Der Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken wurde bisher vergeben an: Ágnes Heller (1995), François Furet (1996), Freimut Duve und Joachim Gauck (1997), Antje Vollmer und Claude Lefort (1998), Massimo Cacciari (1999), Jelena Bonner (2000), Ernst Vollrath und Daniel Cohn-Bendit (2001), Gianni Vattimo (2002), Michael Ignatieff (2003), Ernst-Wolfgang Böckenförde (2004) und Vaira Vike-Freiberga (2005).

Hannah Arendt, 1906 in Hannover geboren, in Königsberg aufgewachsen, Schülerin von Heidegger, Jaspers und Bultmann, arbeitete nach ihrer Flucht aus Deutschland zunächst in Frankreich als Leiterin einer Organisation, die jüdische Waisenkinder nach Palästina brachte, bevor sie 1940 in die USA emigrierte. Dort lehrte sie u.a. als Professorin für politische Theorie an den Universitäten Chicago und Princeton. Zu ihren vielfältigen Veröffentlichungen gehören u.a. „Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft“, „Macht und Gewalt“, „Vita Activa“, „Eichmann in Jerusalem“. Für ihr Werk und Wirken erhielt sie zahlreiche Ehrungen. Sie starb im Alter von 69 Jahren am 4. Dezember 1975 in New York.

Für weitere Rückfragen:
Peter Rüdel
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