Sie sind hier:
  • Pressemitteilungen
  • Archiv
  • Bürgermeister Henning Scherf übergibt Hannah-Arendt-Preis 2001: International besetzte Jury zeichnet Ernst Vollrath und Daniel Cohn-Bendit aus

Senatskanzlei

Bürgermeister Henning Scherf übergibt Hannah-Arendt-Preis 2001: International besetzte Jury zeichnet Ernst Vollrath und Daniel Cohn-Bendit aus

19.11.2001

Mit der Vergabe des diesjährigen Hannah-Arendt-Preises für politisches Denken, der mit 15.000 DM dotiert ist, an Ernst Vollrath und Daniel Cohn-Bendit würdigt die international besetzte Jury den Beitrag der beiden Preisträger für die Erneuerung des politischen Denkens und Handelns. Ernst Vollrath und Daniel Cohn-Bendit stehen beispielhaft für die Erkenntnis, dass politisches Denken und Handeln von einer unaufhebbaren Konflikthaftigkeit gekennzeichnet ist und dass der Versuch, Politik rein instrumentell zu handhaben zerstörerisch wirkt. Beide haben in ihrem jeweiligen Wirkungsbereich deutlich gemacht, dass auch in Krisenzeiten die freiheitliche Dimension des Politischen im Zentrum des Denkens und Handelns stehen muss. Dies verleiht ihrem öffentlichen Auftreten angesichts der Ereignisse vom 11. September und deren Folgen eine hohe Aktu-alität.


Die Verleihung des Preises findet am

    24. November 2001 um 11.00 Uhr in der Oberen Halle des Bremer Rathauses .

statt. Bürgermeister Dr. Henning Scherf wird den Preis übergeben. Die Laudatio auf die beiden Preisträger wird die Beraterin von Bundeskanzler Gerhard Schröder, Brigitte Sauzay, (Koordinatorin für deutsch-französische Beziehungen) halten.


Am Vorabend der Preisverleihung,am Freitag, den 23. November ab 18.00 Uhr

halten die beiden Preisträger im Festsaal des Rathauses jeweils einen Vortrag.



Sowohl als auch Daniel Cohn-Bendit hatten das Glück, Hannah Arendt zu unterschiedlichen Zeiten persönlich zu begegnen. Dennoch waren ihre Lebenswege – nicht nur wegen ihres Alters - grundverschieden. Während Daniel Cohn-Bendit – beginnend mit dem Pariser Mai 1968 bis zu den gegenwärti-gen Debatten innerhalb und um die Grünen - zu einer streitbaren und umstrittenen politischen Persönlichkeit der Zeitgeschichte der letzten 35 Jahre geworden ist, hat Professor Ernst Vollrath Hannah Arendts Erweiterungen des politischen Denkens zum Ausgangspunkt seines akademischen Schaffens gemacht. Auch die politischen Zuschreibungen können unterschiedlicher nicht sein. Der „rote Dany“ war lange Zeit besonders auf der politischen Linken eine Symbolfigur, während Ernst Vollrath in den linksintellektuellen Kreisen der Bundesrepublik als Konservativer ausgegrenzt wurde. Die Jury ist dennoch der Meinung, dass die beiden Preisträger – trotz ihrer unterschiedlichen politischen Prägung - in komplementärer Weise politisches Denken und Handeln in der Tradition Hannah Arendts verkörpern.


Daniel Cohn-Bendit hat nach den Erfahrungen der 68er-Bewegung, nicht zuletzt durch seine grenzüberschreitenden Freundschaften und Kontakte zwischen Deutschland und Frankreich, maßgeblich dazu beigetragen, eine „linke“ antitotalitäre Position zu entwickeln und der Verharmlosung des Totaliltarismus sowjetischer Provenienz durch Teile der marxistischen Linken entgegenzutreten. Radikal war auch sein Bruch mit der theoretischen Verherrlichung von politisch motivierter Gewalt. Joschka Fischer hat in diesem Kontext hervorgehoben, dass er seinem Freund Daniel Cohn-Bendit ganz maßgeblich die Abkehr von den Irrtümern und Irrwegen seiner 68er Karriere verdankt. Über die Brüche seiner Biographie hinweg ist Daniel Cohn-Bendit jedoch der Überzeugung treu geblieben, dass Politik Einmischung bedeutet, dass auch in der liberalen Demokratie eine



Politik der Freiheit immer wieder neu fundiert werden muss. Für diese Position hat er sowohl in der deutschen als auch in der französischen Öffentlichkeit und innerhalb der grünen Parteien beider Länder gekämpft. In den letzten Jahren ist Europa mehr und mehr zur politischen Bühne für Daniel Cohn-Bendit geworden. Als Europaabgeordnete, zunächst für die deutschen, jetzt für die französischen Grünen, pflegt er Freundschaften in alle politischen Lager, ohne seine Position als unbequemer und kontrovers argumentierender Politiker je aufgegeben zu haben.


Ernst Vollrath wurde in seinem politischen Denken ganz maßgeblich durch die gemeinsamen Jahre mit Hannah Arendt an der New School for Social Research in New York geprägt. Nach dem Tode von Hannah Arendt kehrte er 1976 nach Deutschland zurück. Dort gehörte er zu den wenigen, die Hannah Arendts politisches Vermächtnis, vor allem ihre scharfsinnige Analyse des Totali-tarismus und ihr republikanisch geprägtes Freiheitsverständnis, verteidigt und weiterentwickelt haben. Während viele Linksintellektuelle aus der 68er Generation in jenen Jahren Hannah Arendt ignorierten oder als „Kalte Kriegerin“ abstempelten und Konservative wiederum Hannah Arendts Totalitarismustheorie instrumentalisierten, arbeitete Ernst Vollrath in der akademischen Öffentlichkeit beharrlich daran, Hannah Arendts authentischen Begriff des Politischen und ihre Überlegungen zur Entwicklung politischer Urteilskraft zu fundieren. Davon zeugen nicht zuletzt Bücher wie „Die Rekonstruktion der politischen Urteilskraft“ (1977) und „Grundlegung einer philosophischen Theorie des Politischen“ (1987). Indem Ernst Vollrath den Versuch von Jürgen Habermas, Hannah Arendt für das eigene Theoriegebäude zu vereinnahmen, kritisiert hat, war er auch einer der intellektuellen Gegenspieler der Frankfurter Schule.


Der Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken wurde 1994 von Publizisten, Politikern und Wissenschaftlern in Bremen ins Leben gerufen. Er wird vom Senator für Bildung und Wissenschaft der Freien Hansestand Bremen und der Heinrich Böll Stiftung finanziert. Der Preis erinnert an die deutsch-jüdische Denkerin Hannah Arendt, die 1933 aus Deutschland fliehen musste und zu den „prägenden Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts zählt“ (Rita Süssmuth), und soll die Aktualität ihres Denkens für die Diskussion von Gegenwartsproblemen fruchtbar machen. Die Grundzüge ihrer Totalitarismustheorie, ihre Überlegungen zum Verhältnis von Macht und Gewalt, die Hervorhebung politischer


Neuanfänge und ihre Theorie der politischen Urteilskraft haben sich nicht zuletzt im Kontext der Ereignisse von 1989 als Schlüsselkategorien eines Denkens erwiesen, das aus den Bahnen des Gewohnten ausbricht. Der Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken wurde bisher vergeben an: Ágnes Heller (1995), François Furet (1996), Freimut Duve und Joachim Gauck (1997), Antje Vollmer und Claude Lefort (1998), Massimo Cacciari (1999), Jelena Bonner (2000).


Hannah Arendt, 1906 in Hannover geboren, in Königsberg aufgewachsen, Schülerin von Heidegger, Jaspers und Bultmann, arbeitete nach ihrer Flucht aus Deutschland zunächst in Frankreich als Leiterin einer Organisation, die jüdische Waisenkinder nach Palästina brachte, bevor sie 1940 in die USA emigrierte. Dort lehrte sie u.a. als Professorin für politische Theorie an Universitäten in Chicago, Princeton und New York. Zu ihren vielfältigen Veröffentlichungen gehören u.a. „Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft“, „Macht und Gewalt“, „Vita Activa“, „Eichmann in Jerusalem“. Für ihr Werk und Wirken erhielt sie zahlreiche Ehrungen. Sie starb im Alter von 69 Jahren.