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Sonstige

Die Rede des Danziger Stadtpräsidenten Pawel Adamowicz vor der Jahreskonferenz der Neuen Hanse Interregio (NHI) im WTC Bremen

02.11.2001

„Erweiterung der EU als Herausforderung für die nördlichen Regionen –
Polnische Perspektive der Ostsee – Zukünftiges Binnenmeer der Union“

Der Danziger Stadtpräsident Pawel Adamowicz spricht heute (Freitag, 2.11.2001) vor der Jahreskonferenz der Neuen Hanse Interregio (NHI) im World-Trade-Center (WTC) in Bremen. In seiner Rede zum Thema „Erweiterung der EU als Herausforderung für die nördlichen Regionen – Polnische Perspektive der Ostsee – Zukünftiges Binnenmeer der Union“ wird Stadtpräsident Adamiwicz unter anderem ausführen:


„Vor allem möchte ich herzlich dem Bürgermeister der Freien Hansestadt Bremen, Hennig Scherf, danken für die Einladung, am Jahrestreffen der Neuen Hanse Interregio teilnehmen zu dürfen. Zum ersten Mal habe ich die Ehre, und auch das Vergnügen, dabei zu sein bei den Beratungen des so wichtigen und meinungsbildenden Gremiums mit überregionaler Bedeutung.


Man spricht viel den Herausforderungen und auch von den Hoffnungen, die die Ostseeregionen und auch die Länder Mittel- und Osteuropas mit der Ostsee verbinden und dieses Meer als zukünftiges inneres Meer der Europäischen Union sehen. Ich möchte hierzu mich auf die Erfahrungen berufen, die Danzig in diesem Bereich bereits zu verzeichnen hat.


Wir knüpfen gern an die stets in Danzig lebendigen hanseatischen Traditionen an. Seit ihrer Entstehung ist die Stadt an der Mottlau eine besondere Stadt. Sie entstand an der Kreuzung von wichtigen Wasser- und Landwegen, die den Osten mit dem Westen, den Norden mit dem Süden verbinden. Die Weichsel war seit Jahrhunderten die Verbindung zwischen dem Nahen Osten und Skandinavien. Und dank der Lage an der Mündung des Flusses in die Ostsee war Danzig Jahrhunderte lang der wichtigste Seehafen Polens und einer der wichtigsten in Europa. Danzig – tolerant und offen – schuf eine besondere Atmosphäre der westeuropäischen Zivilisation, die gestaltet wurde durch ganz verschiedene wirtschaftliche Faktoren, unterschiedliche Bräuche und kulturelle Richtungen unzähliger Nationen und Religionen. Hier, in dieser Stadt, trafen sich und lebten Deutsche, Holländer, Engländer, Skandinavier und Franzosen. Napoleon Bonaparte hat einst gesagt: „Danzig ist der Schlüssel zu allem“. Heute ist Danzig der Schlüssel zu einem neuen Bewusstsein und zu den Veränderungen in Europa. Die Wege der Geschichte kreuzten sich in dieser Stadt: der Zweite Weltkrieg nahm hier seinen Anfang, in Danzig entstand die Gewerkschaftsbewegung „Solidarność“, die den Impuls gab für den Niedergang des kommunistischen Systems und damit auch zum Fall der Berliner Mauer und zur Aufhebung der Trennung Europas in Ost und West.


Und so wie vor Jahrhunderten die Quelle des Wohlstandes und der Entwicklung der Ostseestädte in der Zugehörigkeit zur Hanse lag, so ist es nur naheliegend, heute eine ähnliche Bedeutung für unsere Region in der Europäischen Union zu sehen.


Übergeordnetes Ziel ist es, einen entsprechenden Platz für die Ostseeländer in der neuen europäischen Architektur zu finden. Eine Architektur, in die auch bei der Erweiterung der Europäischen Union die Länder Mittel- und Osteuropa einbezogen sind.


Zweifellosen Vorrang für Danzig hat in diesem Zusammenhang das Streben, der Region, und damit auch der Stadt, die Rolle eines wichtigen politischen und wirtschaftlichen Zentrums, eines Zentrums der Kultur, der Wissenschaft und des Tourismus in der Ostseeregion zukommen zu lassen.


Danzig ist wohl wie kaum eine andere Stadt berechtigt, bei der Zusammenarbeit im Ostseeraum auf regionaler Ebene mitzureden. Wir sind eine Stadt, die für eine breitver-standene internationale Zusammenarbeit geöffnet ist. Um diese Feststellung zu belegen, sei nur angeführt, dass die Stadt an der Mottlau sechzehn Partnerschaftsverträge unterzeichnet hat. Hauptsächlich ist die Zusammenarbeit auf Partner in Westeuropa gerichtet, und dabei besonders auf die Länder an der Ostsee. Unter allen Städten, mit denen wir Verträge abgeschlossen haben, sind 4 Ostseestädte, und zwar Königsberg, Kalmar, St. Petersburg und Turku. Lebendige Kontakte unterhalten wir mit Helsinki, Stockholm, Riga und Rostock. Das ist das wahre Potential für die Beziehungen im Ostseeraum.


Über die Zusammenarbeit mit anderen Städten unserer Region im Rahmen von internationalen Organisationen wie: Bund der Ostseestädte (UBC), Baltic Sea Tourism Commission (BTC) und VASAB 2010 nehmen wir aktiv teil an den Veränderungen, die sich in diesem Teil Europas vollziehen.


Ausdruck für den Ehrgeiz Danzigs ist auch der Sitz wichtiger Ostsee-Organisationen in unserer Stadt. In Danzig hat das Generalsekretariat des Bundes der Ostseestädte seit seiner Gründung im Jahre 1991 seine Niederlassung gefunden. Die 98 Mitgliedsstädte dieser Organisation sind eine hervorragende Grundlage für die Zusammenarbeit im regionalen Bereich. Die Erweiterung der Europäischen Union ist in der Ostseeregion einer der vorrangigsten Aufgabenstellungen in der Tätigkeit des Bunde. Hervorzuheben ist auch, dass unter den polnischen Mitgliedsstädten sich die Einstellung zur Erweiterung der Union mit anderen Städten aus den Anwärterstaaten wie Estland, Lettland und Litauen decken.


In Danzig ist auch das Sekretariat der Konferenz für Sub-Regionale Zusammenarbeit der Ostseeländer. Diese Konferenz, die in Stavanger in Norwegen ins Leben gerufen wurde, vereinigt über einhundert Ostseeregionen aus Dänemark, Estland, Finnland, Deutschland, Lettland, Litauen, Norwegen, Polen, Russland und Schweden. Sie ist Kontaktpunkt zwischen den Regionen. Die interregionale Zusammenarbeit wird von öffentlichen Institutionen, von Selbstverwaltungsorganen und auch von privaten Einrichtungen geführt. Im Rahmen dieser Tätigkeit finden über 250 Programme ihre Realisierung. Es ist vorgesehen, dass bis Ende 2001 zwei der Ostsee-Sekretariate, das Danziger BSSSC und der Stockholmer Rat der Ostseestaaten eine enge Zusammenarbeit aufnahmen, um so koordinierend auf der Ebenen von Regierung, Parlament und Region zu wirken.


Wir sind also schon heute Zeugen, welchen Einfluss wir nehmen können auf den Erweiterungsprozess der Europäischen Union in der Ostseeregion. Leitmotiv aller dieser Maßnahmen und damit Schlüsselwort ist die regionale Zusammenarbeit. Sie übersetzt die politischen Entscheidungen in eine praktische Sprache konkreter Maßnahmen. Und durch die Verbesserung ihrer Strukturen und Wirkungsformen trägt sie zur Verkleinerung der


Differenzen zwischen zwei Europas als Hinterlassenschaft des kalten Krieges bei. Die Ostseeregion verfügt über ein großes wirtschaftliches Potential, das im Ergebnis historischer Vorbedingungen nicht die Chance hatte, sich gleichmäßig zu entwickeln. Im Interesse aller Ostseestaaten liegt es, Mittel und Prozesse zu bewegen, die einer systematischen Entwicklung der Region dienen und auch dem Ausgleich von Differenzen in der Zivilisation. Davon, dass dies im Interesse der 10 Ostseeanlieger ist, zeugt die Bilanz der gemeinsamen Bedrohungen. Und die wichtigsten Bedrohungen sind die, die in Folge der Zerstörung der Umwelt entstanden, ist das organisierte Verbrechen und auch die steigende Arbeitslosenrate.


Für die Ostseeregion ist das Jahr 1995 von besonderer Bedeutung. In diesem Jahr nahm die Europäische Union mit dem Beitritt Finnlands und Schwedens eine neue, eine „nördliche“ Dimension an. Wir hoffen, dass diese Dimension noch deutlicher zu Ausdruck kommt durch den gegenwärtigen Erweiterungsprozess der EU.


Grundidee dieser nördlichen Dimension ist die Versicherung, dass in der Wirkung und in der Tätigkeit der Europäischen Union und auch in den zugänglichen Instrumenten (auch den finanziellen) die Probleme nicht unberücksichtigt bleiben, mit denen Nordeuropa, und damit auch die Ostseeregion, konfrontiert ist. Wichtig sind auch die politischen Zielsetzungen: Stabilisierung der Region, Unterstützung der Erweiterung der EU, enge Zusammenarbeit mit Russland, Minimierung der Bedrohungen, Promotion der strategischen und wirtschaftlichen Interessen.


Die Europäische Union erklärte ihren Willen und ihre Bereitschaft zur Promotion und Unterstützung dieser Ziele im Rahmen der bestehenden Finanzinstrumente wie: Interreg, Phare und Tacis, sowie auch eine gemeinsame Finanzierung mit internationalen Finanzinstitutionen. Für die Staaten, Regionen und Städte der Ostsee ist von großer Bedeutung die zweckgerechte Nutzung der von der Union bereitgestellten Mittel zur Vorbereitung der Anwärterländer auf den Beitritt in die Europäische Union.


Eine Mitgliedschaft in der EU beeinflusst wesentlich alle Ebenen der Gesellschaft, einschließlich der lokalen Ebene, auf der politische Entscheidungen und Gesetze direkt den Bürger betreffen. Die Vorbereitung der Städte auf die Mitgliedschaft in der Europäischen Union sollte auf zwei Ebenen erfolgen: auf der nationalen Ebene durch Vertreter der Städte während der Verhandlungen sowie im Rahmen der Stadt durch die Anpassung an

die neuen Grundsätze und die Nutzung der neuen Möglichkeiten, die sich auftun. Die Einführung der EU-Gesetze erfolgt in der Regel im Rahmen der nationalen Legislaturprozesse. Jedoch im Aspekt der lokalen Organe ist es wichtig, dass diese sich bewusst sind, dass sie aktiv an den Verhandlungen teilnehmen sollten.


Strukturelle Fonds und das Prinzip der Arbeitspartnerschaft sind ein wichtiges Werkzeug auf der lokalen Ebene. Die Landesregierung sollte nicht im Einzelgang tätig sein, sondern zusammenarbeiten mit Vertretern der lokalen und regionalen Organe. Die lokalen Organe sollten ihre Tätigkeiten und Maßnahmen in ihren nationalen Verbänden koordinieren.


Der lokale und regionale Aspekt darf bei den Verhandlungen schon heute nicht unberücksichtigt bleiben. Dies ist Aufgabe für die Verbände von Städten und Regionen im Lande, die sich zum Ziel gesetzt haben, die für sie günstigsten Bedingungen auszuhan-deln, wie zum Beispiel Übergangslösungen im Bereich Umwelt oder auch Gewährleistung finanzieller Unterstützung aus den Strukturfonds.


Eine weitere Aufgabe ist der Dialog mit der Regierung des Landes. Solch ein Dialog würde den Gesichtspunkt von Städten und Regionen berücksichtigen, und zwar auch dann, wenn die Mitgliedschaft in der EU vollendete Tatsache ist. Die lokalen und regionalen Organe sollten zugleich eine aktive und wichtige Rolle bei der Entscheidungsfindung betreffs der strukturellen Fonds in ihrer Region spielen.


In den Städten selbst geht es darum, dass die Maßnahmen so schnell wie möglich aufgenommen werden, um damit Kompetenz aufzubauen, sowohl unter den Politikern als auch unter den Experten. Die Organisierung von Seminaren und ähnlichen Veranstaltun-gen, die Schaffung von partnerschaftlichen Beziehungen mit den Ländern der EU und vieles mehr sind eine Frage des Zusammentragens von Informationen. Wichtig ist auch, die Strategie der Europäischen Union in die lokalen und regionalen Pläne, Strategien und Entwicklungsprogramme mit einzubeziehen.


Die Grundsätze einer über die Land-Grenzen hinausreichenden Zusammenarbeit zeichneten sich schon in den frühen siebziger Jahren für den Kontinent Europa ab. Noch heute kann man die früheren Wurzeln sehen. Es gibt zwei Gründe dafür, weshalb diese Grundsätze nicht umfassend an die im Ostseeraum herrschenden Bedingungen angepasst sind:


  • Die See-Grenzen sind, wenn es um die zugänglichen Mittel geht, in den Regeln der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit als zweitrangig hinter den Land-Grenzen betrachtet. In der Ostseeregion leiden wir unter einem „Mangel“ an Landesgrenzen im Vergleich zum übrigen Europa. Für die Projekte der grenzüberschreitenden Zusam-menarbeit, die die Grenzen auf dem Land betreffen, sind um vieles mehr finanzielle Mittel zugänglich.

  • Die für die Finanzierung erforderlichen Maßnahmen sind an die Bedingungen der Land-Grenzen angepasst. Grenzobjekte, wie Grenzübergänge oder gemeinsame Feuerwehreinheiten zweier Länder sind möglich, bei SeeGrenzen wie z. B. Fährterminale oder Seerettungsdienste – nicht. Es ist selbstverständlich, dass die See-Grenzen andere Problematiken enthalten. Und die gleichen Kriterien für See- und Land-Grenzen können nicht eingesetzt werden, wie zum Beispiel die für die Zusammenarbeit zwischen Danzig und Karlskrona können nicht die gleichen sein wie für die Zusammenarzwischen Stettin und Deutschland. Es muss ein Weg gefunden werden, der eine Unterstützung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit über die Ostsee (die eine See-Grenze ist) im Rahmen von Interreg ermöglicht und damit das Ziel von Interreg, nämlich den Ausgleich von ungünstigen Bedingungen der Staatsgrenzen zu realisieren.


Weiter gibt es einen grundsätzlichen Unterscheid zwischen der Ostseeregion und dem kontinentalem Europa, und zwar: die wirtschaftliche Tätigkeit in der Ostseeregion in den Städten ist entweder am Meer angesiedelt oder auf das Meer gerichtet – im „Festland-Europa“ geht die Wirtschaftstätigkeit von innen aus. Das bekannte Gebiet Blue Banana zeiht sich von Norditalien über das westliche, Deutschland, das nördliche und östliche Frankreich, die Benelux-Länder bis nach London hin und ist fast vollständig eine innere Frage. Die wirtschaftlichen Schwerpunkte in der Ostseeregion sind längs der Küste angesiedelt und das Meer spielt eine sehr wichtige Rolle. Diese Tatsache sollte größere Beachtung finden in der Europa-Politik zum Beispiel in der „nördlichen Dimension“. Die europäische Politik sollte auch beachten, dass Europa der Kontinent ist mit der längsten Küste – auch das sollte sich in der Politik der Europäischen Union widerspiegeln.


Sehr geehrte Damen und Herren, zum Abschluss möchte ich noch sagen, dass wir alle wissen, dass im Laufe einiger weniger Jahre die Ostsee zum „Binnensee“ der Europäi-schen Union wird. Doch wenn wir, in unseren Städten und Regionen in den Ländern, die sich um die Mitgliedschaft in der EU bemühen, gut vorbereitet sein wollen auf den Beitritt, müssen wir schon jetzt die Erfahrungen unserer Partner in der Europäischen Union nutzen. Ich weiß, dass wir auf diese Hilfe und Unterstützung zählen können. Beweis dafür ist sicher auch unser heutiges Treffen.


Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit“.