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Der Senator für Inneres und Sport

Bremer Literaturpreise 1999 vergeben /Adolf Endler und Christa Estenfeld ausgezeichnet

26.01.2000

Rede von Herrn Adolf Endler

Sehr geehrte Damen und Herren !


Eingangs ein paar Zitate aus einer unveröffentlichten und etwas verräterischen Satire - Sie werden mich hoffentlich nicht ausbuhen dafür -, die ich irgendwann in den späten Achtzigern niedergeschrieben habe und die von nichts anderem als einer Preisverleihung handelt, von der Stiftung eines Preises, eines Hinterhof-Preises, durch Bruder Adolf Endler, von der Verleihung dieses Preises an Bruder Adolf Endler. Der Ort des wüsten Geschehens: Die berühmte Gaststätte KEGLERHEIM in der Lychener Straße im Prenzlauer Berg. "Menschenskind", det ist ja Kino ! Det is ja Kinomatographie reinsten Wassers, absolut, total ...", röhrt es einem gleich zu Beginn der Story aus der Kneipe entgegen, in welcher die einigermaßen verwahrloste Jury des INTERNATIONALEN BUBI-BLAZEZAK-PREISES tagt oder auch nächtigt und das gezackte Für und Wider ordentlich begießt, vor allem das Für ....: Und auch gedanklich enorm sei das ganze Wiesollichesnennen, zumal in gedanklicher Hinsicht ...." - "Panizza redi-vitzus - und 'ne Prise Peret hintendrüber jestreut !" - "Zrrrlett, zrrrlett; mülk !" - Und endlich ‘mal wieder frische Worthaftigkeit in die Welt hinaus statt der übli-chen hundertmal abgekauten Fingernagelübungen .... "Ja, Fellini hätte das um-zusetzen jewusst, Fellini allein, aber jetzt isset zu spät ..." Und mit geradezu schlafwandlerischer Sicherheit wären die poetischen Strukturen immer jenau an der richtigen Stelle aufgeraut oder nachsichtig niedergebügelt ... "Würden Sie, bitte, noch 13 Doppelpinten bringen und einen einfachen Klaren dazu, Sir Wal-ther!" - "Ungedrafft, Schnafft zu Schnafft!" - Und wenn man das an geruhsamen Sonntagen läse, dann wäre es einem ganz so, als spielte man eine erstklassige Schachpartie ..." - "Ich möchte fast meinen: Wie zu Weihnachten Bach auf der Silbermannorgel im Lausitzer Bergland bei dichtestem Pulverschneefall ..." - Und nicht zu vergessen die äußerst delikat gesetzten Displitrikoden, die immer wieder vollkommen überzeugend durchbrennen, und so gut wie keine von ihnen nicht duplivant ! - "Fabelhaft, fabelhaft, jawohl, Bach auf der Silbermannorgel, Strich für Strich ..."



Ehe ich weitere einleuchtende Begründungen für die VERLEIHUNG DES INTERNATIONALEN BUBI-BLAZEZAK-PREISES an den Hinterhaus-Maestro Adolf "Eddy" Endler wiederhole, und ich könnte es eine Viertelstunde lang und länger, und Rudolf Alexander Schröder würde vom Himmel herab ein Borchardtsches Hagelgewitter auf mich niederstürzen lassen; ehe ich mich ganz und gar in Jeckereien verliere, das ernst gemeinte Geständnis, auf das ich recht eigentlich hinaus will: Viele Jahre lang habe ich Preisen, Medaillen, so genannten "Würdigungen" gegenüber eine vielleicht nicht ganz ehrliche, aber schön provokante Verachtung gezeigt; kein Kunststück, wenn man bedenkt, dass ich derlei Wohltaten bis zu meinem sechzigsten Geburtstag schwerlich zu erwarten hatte. Was dann kam, war zum Teil ein wenig ekelhaft schmeckende "Wiedergutmachung". So ist es z.B. bei der Verleihung des Heinrich-Mann-Preises 1990 durch eine im Grunde unwillige Akademie der Künste (damals noch Ostberlin) gewesen, als meine gleichfalls recht unwillige Danksagung aus nichts anderem als der Lesung eines höhnischen Kapitels meines Buches SCHICHTENFLOTZ bestand - die Jury des Bremer Literaturpreises braucht sich wirklich nicht be-troffen zu fühlen - gipfelnd in der Bemerkung "Oh, André Breton, verzeihe, verzeih' mir!: Ein echter Surrealist nimmt prinzipiell keinen Preis an, von wem er auch immer gereicht werden mag. - Mh, aber bin ich denn 'n Surrealist ? Ich bin ein Vertreter des deutschen Humors !, auch wenn Frau Professor Löffler meint ....". So weit das Zitat aus "Schichtenflotz": Empörte, ja hasserfüllte Blicke damals aus dem Publikum, die mir wohl bedeuten sollten, dass man mit einer so hehren Institution wie einer Akademie der Künste keinesfalls so schnoddrig-schnöde verfahren dürfe; dabei waren die größten Hauptleute der Akademie - nein, ich will keine Namen nennen - der feierlichen Ehrung des Widerlings und Renegaten E. ohnehin fern geblieben. Das ist es, was ich sagen will: Erst seit wenigen Jahren darf ich mich bedenkenlos freuen, wenn mir ein Preis verliehen wird, und nun ist es sogar der fabulöse Bremer Literaturpreis, den ich erhalte, Anlass für doppelte Freude. Weshalb ich zeitweise quasi "verfemt" gewesen bin, das kann man vielleicht meinen Tagebuchblättern TARZAN AM PRENZLAUER BERG entnehmen, indirekt sicher auch der Gedichtsammlung DER PUDDING DER APOKALYPSE .... "Heinerich, der Wagen bricht!" Es lässt sich nicht leicht formulieren; deshalb formuliere ich es lieber ein bisschen überdreht: Ich komme mir zur Zeit manchmal wie ein Märchenprinz vor, ein schon etwas wackeliger, ja, der von einem bösen Zauber befreit worden ist, ich darf mich freuen, ich darf danken, ohne sarkastische Untertöne zu aktivieren, ich danke .... Oder macht dass das Alter, Brigitte ?


Sehr geehrte Damen und Herren ! Ich gebe zu, dass es manchmal verwirrend gewesen sein muss, was ich der Welt geboten habe. Ich selber auch wundere mich ja zuweilen über die halsbrecherisch anmutende Zickzackroute, die ich nicht nur zwischen den extremen Polen Sozialistischer Realismus und Dadais-mus/Surrealismus, sondern nicht minder zwischen Mecklenburg und Oberlausitz, Berlin-Mitte und Leipzig-Connewitz gekurvt bin. Schon als Dreißigjähriger, ich erinnere mich genau, habe ich mich manchmal gefragt: Na, ob du das noch lange aushältst ? Und auch heute stehe ich von Zeit zu Zeit vorm Spiegel und prüfe mein nunmehr zerknittertes Auge: Wie ist es möglich, dass du überhaupt noch lebst, dirty old man ? Sich solche Fragen zu stellen heißt neben anderem, eine ganze Serie von Danksagungen zu beschwören, an deren Spitze der Dank an meine Frau Brigitte steht, die mir nicht nur im übertragenen Sinn mehrmals das Leben gerettet hat und ohne deren Sorge mir auch dieser 26. Januar 2000 in Bremen nicht beschieden gewesen wäre; meine Werkliste wäre um sechs oder sieben Titel ärmer. Da ich auf meine letzten Bücher, unten ihnen TARZAN AM PRENZLAUER BERG und DER PUDDING DER APOKALYPSE, anspiele, stellt sich selbstverständlich der Name dessen ein, dem ich nicht allein solche schnittigen Buchtitel verdanke - mir selber gelingt immer so Holzschnittartiges wie "Kontakte" oder aber "Die Expedition" -, sondern viel, viel mehr: Ohne den Lektor Thorsten Ahrend wäre ich heute mit Sicherheit nur noch partiell sichtbar, genauer, so gut wie verschwunden (das hätte auch meine Frau nicht verhindern können); er hat mich alle zwei Jahre neu entdeckt, könnte man sagen. Immer wieder entdeckt hat mich ebenfalls eine Hand voll rheinischer Kritiker - ja, in der Tat, Kritiker! - und eine Hand voll Dichter-Kollegen vom nunmehr zerspellten Prenzlauer Berg (Andreas Koziol, Frank-Wolf Matthies, Peter Wawertzinek, Jan Faktor, Wolfgang Hilbig), durch deren Gedichte, Essays, Erzählungen ich gleißend hin- und hergeistere, dass es nur so fetzt. Nie aus den Augen gelassen haben mich, wie es scheint, auch die zwei Herren Gerrit-Jan Berendse und Manfred Behn, die sich in unterschiedlicher Weise und sicher oft verzagend um den Ruhm und das Verständnis meiner Prosa, meiner Poesie bemüht haben; Berendse, der niederländische Germanist, hat z.B. in seinem gerade erschienenen Büchlein "Grenzfall-Studien" unsereinen nicht nur als "Grenzfall" und erstaunli-chen "DDR-Beatnik" beschrieben, sondern auch eine Erklärung gesucht für die offensichtliche Rat- und Sprachlosigkeit seiner deutschen Kollegen im Hinblick auf die Produktionen des "Tarzan am Prenzlauer Berg", nach Berendse "schwer fassbar" diese Sachen "mit dem in der bisherigen DDR-Forschung bereit gelegten Handwerkzeug", und zwar nicht allein im Osten; Manfred Behn, Herausge-ber einiger meiner Essays im Luchterhand-Verlag, würde mir, wie er drucken lässt, sogar dann die Stange halten (Zitat:), "wenn sich herausstellen sollte, dass er ...." - nämlich: ich ! - "als Agent/Informeller Mitarbeiter einen schwungvollen Nachrichten- und Waffenhandel mit zahlreichen finsteren Mächten getrieben hätte ..." (So 1993, als manches noch unklar war.) Sehr geehrte Damen und Herren, muss das einen nicht geradezu umhauen ? Nicht viele, die so etwas erleben, nicht wahr ?


Im Kontrast zu so schönen Stimmen endet übrigens die eingangs erwähnte Ge-schichte über die Verleihung eines imaginären BUBI-BLAZEZAK-PREISES mit dem rabiaten Rausschmiss des Stifters und ersten Preisträgers Endler aus der Gaststätte KEGLERHEIM, nämlich " ...hinaus und hinunter auf das Trottoir der Dunckerstraße und den Umrissen jenes Pissoirs zu, jener sog. Öffentlichen Be-dürfnisanstalt ausschließlich für Herren, unbeleuchtet draußen und drinnen, in welcher Ledermantel-Jenny ihrem abendlichen Nebenerwerb nachgeht ... -" Später dann: "... Auf der Raumersraße überholt mich ein in glitzerndes Leder gehüllter Motorradfahrer, hielt, kehrte um und brauste direkt auf mich zu, stoppte, spuckte mir ins Gesicht: "Mit den besten Grüßen von Louis Ferdinand Poensgen ! Wenn du dich noch einmal bei uns sehen lässt. kann er für nix garantieren." - Dieser Ort hier ist glücklicherweise Bremen; und es ist glücklicherweise die Verleihung, die ganz und gar reale, des Bremer Literaturpreises ....Vielen Dank Ihnen allen !



Verleihung des Bremer Literaturpreises 2000


Laudatio auf die Förderpreisträgerin 2000

Christa Estenfeld, Gudrun Boch


Bruno Setzer ist Museumswächter. Von morgens bis abends bewacht er kostbare Gemälde aus vergangenen Jahrhunderten. "Wenn er sich durch sein Terrain bewegte, durch dieses feuchte Sauerstoff-Stickstoff-Gemisch, das konstant auf zweiundzwanzig Grad gehalten wurde, kam er sich vor wie ein langsam schwimmender Fisch. Sein Mund schnappte auf und zu, das Gemurmel der Besucher drang gedämpft an sein Ohr. Die sich im wechselnden Abstand an den Wänden vorbeischiebenden Menschen schlossen ihn aus ihrer Gemeinschaft aus, bildeten manchmal eine Mauer zwischen ihm und den Bildern." Im Verlauf der Erzählung beginnt zwischen Bruno Setzer und den Gemälden, die er bewacht, eine seltsame Kommunikation. Die Bilder öffnen sich, weite Landschaften verführen Bruno dazu hineinzuspazieren. Früchte und totes Wild bieten sich ihm zum Verzehr dar, Figuren sprechen ihn an, Hände greifen nach ihm. In diese halluzinatorisch belebte Bilderwelt schieben sich allmählich Projektionen von Gewalt, Zerstörung, Unvollkommenheit und schließlich kommt der Augenblick, wo der Wächter zum Bewachten wird, wo Bruno sich dem Zugriff der Bilder entziehen muss. Er verlässt das Museum und die Stadt und beginnt andernorts selber zu malen. Gestatten Sie mir, liebe Frau Estenfeld, bei dieser Geschichte aus dem hier zu preisenden Buch an Ihre Zeichnungen zu denken, an die Figur der träumenden Penthesilea und an den Prinzen von Homburg, an den quecksilbrigen Odradek oder den grausam verwandelten Gregor Samsa. Als bildende Künstlerin haben Sie diese und viele andere Figuren aus der Literatur illustriert, Traumfiguren und Albtraumfiguren, und vielleicht haben die nach Ihnen gegriffen, haben Ihnen Traum- und Innenlandschaften gewiesen, denen Sie im Medium der Sprache am genauesten nachspüren, größte Präzision und Tiefenschärfe geben können. Der Traum hebt die Schwerkraft der realen Welt auf. Im Traum ist alles möglich. Wir träumen und erkennen im Traum unsere unbewussten Wünsche und versteckten Ängste. Nicht selten sind wir froh, nur geträumt zu haben und in einer bekannten und vertrauten Realität aufzuwachen. Das Umgekehrte geschieht der Insektenforscherin Vera Ball in der Erzählung "Vergeltung". Im Traum sitzt die Wissenschaftlerin mit ihrem Partner in einem Restaurant. "Drei Kongresstage Europäischer Insektenforscher lagen hinter ihnen und Vera konnte sich kaum noch aufrecht halten. Ihr Kopf fiel nach hinten, sank ins Polster der Sitzbank. Ihre Hände rutschten von der Tischkante, knapp an Teller und Fischbesteck vorbei, fielen ihr in den Schoß wie schwere Werkzeuge." Eine monströse Languste entwischt dem ungeschickt hantieren-den Wirt, er schneidet sich in die Finger, verbrüht sich die Hände, es gibt Schreie, Lärm, dann plötzliche Stille. Vera erwacht und - befindet sich mitten im Urwald. Der Partner aus der Traumsequenz ist, wie wir erfahren, längst tödlich verunglückt, Vera ist allein auf der noch gemeinsam geplanten Forschungsreise in Kolumbien. Ihre Expedition misslingt. Was ihr widerfährt kommt Albträumen gleich. Sie verunglückt, wird vergewaltigt und gerät bei den Einheimischen in Misskredit. Nicht in diesem Scheitern liegt das Zentrum der Erzählung, sondern in der Frage: "War es nicht ähnlich wie zu Hause? Hielt der Dschungel nicht ähnlich entsetzliche Überraschungen für sie bereit, war er deshalb nicht auch anheimelnd? Diesen Ort kannte sie doch von Berufs wegen. Es lebte hier wie überall unter dem Bekannten zu viel Unbekanntes, das sich nicht eigentlich versteckte, das aber auf oft grausame Weise mit ihr spielte, das sich nicht zähmen und katalogisieren ließ."Die Vertrautheit des Unheimlichen, ein wiederkehrendes Paradigma in den Erzählungen Christa Estenfelds. Welcher Ort ist es, wo das Anheimelnde fremd und das Fremde anheimelnd erscheint? Der Urwald von Kolumbien, ein Felsatoll vor der Küste Perus, eine Landschaft auf den Kanarischen Inseln, sie werden zu metaphorischen Topographien wie jenes" wahre innnere Afrika" mit dem Jean Paul das ungeheure Reich des Unbewussten bezeichnete. "Tabu-Land" nennt die verstrahlte und kontaminierte Frau ihr Eiland, auf dem sie ausgesetzt wurde und auf dem sie sich einrichtet und mit den Gegebenheiten arrangiert. Die Menschenfresserin aus der gleichnamigen Erzählung erkennt in den ineinanderwuchernden, verschachtelten Räumen des Dschungels das schreckenlose Schauspiel von Fressen und Gefressenwerden wieder, welches sie als Schulkind schon einmal durch ein Mikroskop beobachtet hatte. Überhaupt kommt ihr die die kraftvoll verwilderte Existenz der QuarantäneInsel bekannt vor. "Manchmal glaubte ich, früher schon einmal hier gewesen zu sein." Ein Déja vu mit literarischen Assoziationen. Die Überlebenstrategien der Menschenfresserin reflektieren den besitzergreifenden Robinson ebenso wie den unterworfenen Freitag. Sie ereignen sich jedoch in einem posthistorischen Raum, in einem Raum hinter der gläsernen Wand, jenseits realer Erfahrungen und moralischer Wertungen. "Ich bin eine Freigelassene, bewahre auf meinem Grund laue Luft, einige Stücke greifbarer lieblicher Gegenwart". Die Menschenfresserin dekliniert in ihrem Monolog die Euphorie der Existenz nach der Katastrophe. "Dies wird wieder ein glücklicher Tag gewesen sein", lautet Winnies bekannter Refrain, während sie im Sand versinkt. Anders als der Beckettschen Figur ist der Menschenfresserin noch ein Schlussplädoyer gestattet: "Was soll die vergangene düstere Litanei? Ich bin ein menschliches Wesen, glauben Sie mir, Kapitän! Genau wie Sie, wie wir alle, brauche ich etwas, um die Kälte, die unsere kranken Herzen umklammert, zu bekämpfen: die Gegenwart eines menschlichen Körpers, vielleicht einer glühenden Seele, geschaffen nach meinem Bild, um nicht elend, vor der Zeit zu krepieren." Einen ähnlich lautenden Appell richtete Frankensteins Geschöpf an seinen verantwortungsunfähigen Erschaffer. Die Hoffnung auf Erlösung feilich wird hier nicht einmal mehr artikuliert. Christa Estenfelds Protagonisten richten sich in ihrer Einsamkeit ein, in ih-ren merkwürdig zeitenthobenen Phantasieräumen. Sie konstatieren ein nicht mehr und postulieren ein noch nicht. Die Biologin Vera Ball unterscheidet bei ihren Forschungsobjekten drei Stadien der Existenz. Zwischen der Larve und dem ausgebildeten Insekt, der Imago, liegt das Stadium der Puppe. Es ist ein Stadium der Ruhe. "Diese Phase", heißt es, "ist noch wenig erforscht. Hier wird über die künftige, endgültige Gestalt nachgedacht und genetisch entschieden." Dem Verhältnis der Puppengestalt zu den anderen Stadien der Insekten gilt Veras besonderes Interesse. "Es war ihr eine Theorie in den Sinn gekommen, die sie durch Forschung zu belegen hoffte. Auch hier spielte die Rastlosigkeit und die Poesie der Kontraste, die das Auftreten der voll entwickelten Spezies in der Natur zeichnete, eine wichtige Rolle. "Wie sich in dem noch unentschiedenen, meditativen Stadium der Puppe die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen Gegenwart und Vergangenheit, zwischen Leben und Tod verwischen, zeigt sich am eindrücklichsten in der Erzählung "Die Weihnachtskiste". In den naiven, überrealen Wahrnehmungen eines zehnjährigen Kindes brechen sich die Gesetze und die Ordnungen der Erwachsenenwelt. Auf den Zauber der Zeit vertrauend versucht das Kind seine Phantasie und seine Geheimnisse vor dem zerstörerischen, gewaltsamen Zugriff der Realität zu bewahren. Sein Versuch wird scheitern. Ist die zukünftige und endgültige Gestalt der Dinge nicht längst entschieden? Sind die Möglichkeitsvisionen des Puppenstadiums nicht reine Illusion? Hierüber kann die Poesie nicht befinden. Ihre unerschöpfliche Aufgabe ist die Selbstbehauptung auch jenseits des Scheiterns. Von der Poesie der Kontraste war die Rede, ein Topos, der das poetische Prinzip von Christa Estenfelds Erzählungen genau bezeichnet. Die ruhige, disziplinierte, präzise Sprache ihrer Texte steht in irritierendem Kontrast zu den vielschichtigen Projektionen innerer Erregungszustände, zwischen Eiseskälte und hitziger Glut, zwischen Leben und Tod, zwischen Wahn und Wirklichkeit, zwischen Gut und Böse changierende Aggregatzustände des Seins und Bewusstseins. Die Erzählungen geben Einblicke ins Herz der Finsternis und entwerfen dabei fremde, eigenwillige Bilder, bedrängend und anziehend zugleich, Bilder, die lebendig werden und nach uns greifen, Sprache, die in den eigenen Assoziationsräumen widerhallt, Sätze, deren Bewegung wir uns anvertrauen können: "Dann greift der Wind dem Emigranten ins Haar: rafft Strähnen auf, bläst glatt, zerrt rücksichtslos, dreht verrückte Wirbel, knotet, spannt, lässt los."