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Die Senatorin für Arbeit, Soziales, Jugend und Integration

Erste Konsequenzen aus dem Todesfall Kevin

18.10.2006

Nach dem tragischen Tod des zweijährigen Kevin hat das Sozialressort umgehend Sofortmaßnahmen eingeleitet und erste Konsequenzen gezogen.

Kontaktaufnahmen / Hausbesuche von möglicherweise gefährdeten Kindern bzw. deren Familien

  1. Wie von Bürgermeister Jens Böhrnsen angekündigt, werden alle Kinder aufgesucht, deren Eltern „toxische Substanzen“ – so der Fachbegriff - gebrauchen. Darunter sind zum großen Teil drogenabhängige, substituierte Eltern oder Elternteile, aber auch Eltern, die stark alkoholabhängig sind. Insgesamt wurden bis gestern 95 Familien mit 146 Kindern überprüft. Von den 146 Kindern erhalten 89 sogenannte Hilfe zur Erziehung. Hilfen zur Erziehung sind z.B. Erziehungsbeistandschaften oder sozialpädagogische Familienbegleitung. Die Maßnahmen reichen von einer Unterstützung bei der Bewältigung des Alltages mit dem Kind über Hilfen für die Familie beim Umgang mit Ämtern und Behörden bis hin zur Konfliktregelung. Im Einsatz sind hier Sozialpädagogen und Sozialpädagoginnen, aber auch Psychologen und Psychologinnen sowie Familienhebammen.

    Als erstes Resümée der Überprüfung der betroffenen 95 Familien ist festzustellen, dass seit diesem Jahr bzw. bereits seit dem Vorjahr 48 Kinder in Pflegefamilien, Heimen oder anderen Einrichtungen leben. Ein weiteres Viertel der 146 überprüften Kinder besucht regelmäßig Kitas, Schulen oder Kindergruppen. Diese Kinder wurden teilweise zu Hause aufgesucht, teilweise wurden Kontakte mit den Einrichtungen aufgenommen, die die Kinder täglich sehen. Weitere 20 Kinder (in 18 Familien) besuchen derzeit keine Einrichtungen und bedurften bislang keiner Hilfe. Ein Großteil dieser 20 Kinder wurde bereits zu Hause besucht, teilweise werden Hilfeplanungen eingeleitet. Bei anderen sind keine weiteren Maßnahmen notwendig, da die Eltern stabil sind und die erfolgreich das Methadonprogramm durchlaufen haben.

    Die Hausbesuche wurden entweder durch die fallführenden Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter (Case-Managerinnen und Case-Manager) durchgeführt oder die Einrichtungen der Jugendhilfe gebeten, in die Familien zu gehen. Dabei wurde auf jene zurückgegriffen, die ohnehin in Kontakt mit der Familie stehen. Für den Fall, dass die Familien nicht zu Hause angetroffen wurden, werden kurzfristig neue Termine anberaumt.

  2. Darüber hinaus werden in diesen Wochen weitere 200 – 250 Familien mit Kindern überprüft. Es handelt sich hierbei um Kinder unter 14 Jahren, die in den letzten zwei Jahren in Obhut genommen wurden und die dann ohne weitere Anschlussmaßnahme in die Familie zurückgekommen sind. Dabei ist ausdrücklich festzustellen, dass es sich bei dieser Gruppe nicht in jedem Fall um eine Familie in einer problematischen Situation handeln muss.
  3. Als dritte Gruppe werden all jene Familien mit Kindern unter 14 Jahren noch einmal überprüft, in denen in den letzten zwei Jahren ein Familienkrisendienst im Einsatz war und die aktuell keine Maßnahme zur Unterstützung erhalten. Auch hier handelt es sich um ca. 200 – 250 Familien. Auch in diesen Fällen werden die Hausbesuche durch Einrichtungen der Jugendhilfe bzw. durch die Sozialarbeiter selbst durchgeführt.

Für die Überprüfung der insgesamt max. 600 Fälle sind zurzeit 60 – 70 Sozialarbeiter/innen vor Ort im Einsatz. Damit muss jeder Sozialarbeiter zunächst maximal 10 zusätzliche Kontakte / Hausbesuche durchführen. Dies ist innerhalb von ca. zwei Wochen leistbar.

Durch diese Überprüfung der insgesamt 600 Fälle sollen jene Familien identifiziert werden, die sich derzeit in einer kritischen und beobachtungswürdigen Situation befinden. Auf diese Familie wird weiterhin großes Augenmerk gelegt werden. Hier wird sichergestellt, dass die betroffenen Kinder regelmäßig gesehen werden. Diese laufenden Beobachtungen können von Erzieherinnen und Erziehern, Lehrerinnen und Lehrern, Familienhebammen oder Ärztinnen und Ärzten geleistet werden. Bei Kindern, die sich nicht in Einrichtungen befinden, wird veranlasst, dass eine Beobachtung regelmäßig in der Familie stattfindet. Zentral ist hier, dass die Informationen an das Jugendamt zurückfließen und dort qualifiziert bewertet werden. Im Mittelpunkt der fachlichen Entscheidung steht dabei das Wohl des Kindes. Zurzeit wird zudem ein Berichtssystem aufgebaut, um jeweils den aktuellen Stand über Kontaktaufnahmen und Hausbesuche sowie deren Ergebnisse bezogen auf das Kindeswohl zu haben.

Einrichtung einer Clearing-Stelle

Beim Amt für Soziale Dienste wird kurzfristig eine Clearing-Stelle modellhaft eingerichtet. Diese Clearing-Stelle wird in Zukunft über besonders schwierige Fälle entscheiden und dabei auch Sachverstand von außen mit einbeziehen. Neben Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Jugendamtes werden außerdem Expertinnen und Experten der Jugendhilfe und des Gesundheitsbereiches mit in die Entscheidung von komplexen Fällen einbezogen. Die Entscheidung, ob ein Kind in der Familie verbleibt oder nicht, war bisher im jeweiligen Sozialzentrum (ggf. unter Mitwirkung des Familiengerichts) getroffen worden. Hierzu werden derzeit die konzeptionellen und organisatorischen Vorbereitungen getroffen.

Verstärkung des Bereichs Amtsvormundschaften

Als weitere Sofortmaßnahme werden kurzfristig zwei Mitarbeiter aus dem Bereich „Beistandschaften“ in den Bereich der „Amtsvormundschaften“ abgeordnet, um diesen Bereich quantitativ zu verstärken. Die Aufgabe des Amtsvormundes ist die rechtliche Vertretung des Kindes an Eltern statt (z.B. Aufenthaltsbestimmung, Wahrnehmung der Personenrechte).

Dokumentation über die Abläufe und Zusammenhänge im Todesfall Kevin

Bürgermeister Jens Böhrnsen hat Staatsrat Ulrich Mäurer zudem mit der Erstellung einer Dokumentation über die Abläufe und Zusammenhänge im Todesfall Kevin beauftragt. Mäurer hat seine Tätigkeit bereits aufgenommen. Die Ergebnisse werden Anfang November vorliegen.

Zahlen und Fakten zur Jugendhilfe in Bremen

In Bremen wurden bisher 1.200 Kinder im Jahr 2006 durch ambulante Maßnahmen der Jugendhilfe unterstützt.

1.137 Kinder sind bisher im Jahr 2006 „fremdplatziert“ worden. Sie leben in Heimen oder in Pflegefamilien.

Betrachtet man die „Fremdplatzierung“ im Zeitverlauf, so ergibt sich folgendes Bild: Im Jahr 2002 befanden sich 1.058 Kinder in Heimen oder Pflegefamilien. Im Jahre 2005 waren es 1056. Die Fallzahlen sind somit konstant geblieben. Veränderungen gibt es im Verhältnis zwischen der Unterbringung in Heimen und Pflegefamilien. Die Zahl der Kinder, die in Heimen untergebracht sind, ist seit 2002 um 60 gesunken, während die Zahl der Kinder in Pflegefamilien um 58 gestiegen ist. Die reine Betrachtung der Zahlenverläufe sagt noch nichts über die dahinter stehenden fachlichen Konzepte. So wurden in den letzten Jahren zwei Schwerpunktsetzungen in der stationären Betreuung vorgenommen. Zum einen wurden Jugendliche ab 17 Jahren mittels eines besonderen Programms in andere Wohnformen übergeleitet. Dies erstreckte sich von unterstützten Wohngemeinschaften über Nachbetreuung bei selbständigem Wohnen.

Sehr junge Kinder wurden vorrangig in Pflegefamilien untergebracht. Die Art der Pflegefamilien hat sich dabei ausdifferenziert. Es gibt heil- und sonderpädagogische Pflegestellen, die besondere Qualifikationen aufweisen. Auch die „normalen“ Pflegefamilien werden durch Qualifikationsprogramme unterstützt. Durch diese fachliche Umsteuerung haben sich auch Kostenverschiebungen ergeben, wie ab 2005 ersichtlich. Die Ausgaben konnten trotz konstanter Fallzahlen etwas reduziert werden.

Von der Fremdplatzierung zu unterscheiden ist die Inobhutnahme. Eine Inobhutnahme in einer Notaufnahmeeinrichtung ist eine vorläufige Krisenintervention in Eil- und Notfällen durch den öffentlichen Jugendhilfeträger, die der kurzfristigen Klärung von Problemlagen und Perspektiven dient. Das Jugendamt ist verpflichtet, ein Kind in Obhut zu nehmen, wenn eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes dies erfordert. Insgesamt wird in diesem Jahr mit einem zeitweiligen Aufenthalt von rund 500 Kindern in der Notaufnahme gerechnet. Pro Tag sind in diesem Jahr bisher durchschnittlich 80 Kinder in Notaufnahmeeinrichtungen. Im Zeitverlauf hat sich die Zahl der Notaufnahmen reduziert. Im Jahr 2002 waren es im Jahresdurchschnitt 107 Kinder pro Tag. Der Rückgang um ca. 20% dürfte nicht zuletzt auf den vermehrten Einsatz von ambulanten Familienkrisendiensten zurückzuführen sein.

Betrachtet man die Ausgabenentwicklung der ambulanten und stationären Erziehungshilfe, so wird deutlich, dass bis 2004 ein Anstieg auf 72,66 Mio. € zu verzeichnen war. Seit 2005 sind die Ausgaben leicht rückläufig (2005: 70,88 Mio.; 2006: 69,36). Dabei bleiben allerdings die Ausgaben für ambulante Maßnahmen weitgehend konstant, während die Ausgaben für fremdplatzierende Maßnahmen sinken. Dies ist auf die oben geschilderte fachliche Umsteuerung zurückzuführen.

Bereits vor zwei Jahren wurde für Bremen eine Untersuchung in Auftrag gegeben, die über die notwendige qualitative und quantitative Personalausstattung im Bereich des ambulanten Sozialdienstes Aufschluss geben soll. Die Ergebnisse werden in Kürze erwartet.