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Die Senatorin für Arbeit, Soziales, Jugend und Integration

Senatorin Stahmann: Behinderte haben künftig besseren Zugang zum öffentlichen Leben

Umfassende Beteiligung bei der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention

02.12.2014

Behinderte Menschen in Bremen sollen künftig selbstbestimmter Leben und mehr gesellschaftliche Teilhabe erfahren. Einen "Landesaktionsplan", mit dem Bremen die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen mit weit über 200 Einzelmaßnahmen umsetzt, hat der Senat am heutigen Dienstag (2. Dezember 2014) beschlossen. Dazu gehören unter anderem die Prüfung eines barrierefreien Zugangs über den Haupteingang des Rathauses und in alle weiteren Räume sowie die Barrierefreiheit aller Bahnhöfe und Ortsämter in Bremen. Die UN-Behindertenrechtskonvention verpflichtet die Staaten, Menschen mit Behinderungen den "vollen und gleichberechtigten Genuss aller Menschenrechte und Grundfreiheiten" zu ermöglichen und "die Achtung der ihnen innewohnenden Würde" zu fördern.

"Mit der UN-Behindertenrechtskonvention haben wir eine neue rechtliche Qualität bei der Verankerung von Menschenrechten", sagt Sozialsenatorin Anja Stahmann, unter deren Federführung der Landesaktionsplan entwickelt wurde. "Wir setzen das jetzt Schritt für Schritt um." Der Landesaktionsplan sei zunächst auf einen Zeitraum von vier Jahren angelegt. Der Landesbehindertenbeauftragte, der Landesteilhabebeirat und die Senatorin für Soziales, Kinder, Jugend und Frauen werden die Umsetzung überwachen und im Jahr 2019 einen Bericht vorlegen, der Grundlage für seine Weiterentwicklung sein wird.

Zu spürbaren Verbesserungen soll es in zehn Handlungsfeldern kommen, in denen Menschen mit Beeinträchtigungen besonders behindert werden: Mobilität, Bauen und Wohnen, Erziehung und Bildung, Arbeit und Beschäftigung, Gesundheit und Pflege, Kultur, Freizeit und Sport, Schutz der Persönlichkeitsrechte, Information und Kommunikation.

Über zwei Jahre wurden dazu diese Lebensbereiche untersucht. Ein "temporärer Expertinnen- und Experten-Kreis" (TEEK) unter Leitung des Landesbehindertenbeauftragten Joachim Steinbrück hat die aktuelle Situation analysiert, Maßnahmen zur Umsetzung der Behindertenrechtskonvention vorgeschlagen und den Entwurf des Aktionsplans erarbeitet. Vertreterinnen und Vertreter behinderter Menschen und alle Senatsressorts haben daran mitgearbeitet. Beteiligt waren zudem der Magistrat der Seestadt Bremerhaven, die Bremische Zentralstelle für die Verwirklichung der Gleichberechtigung der Frau, die Landesarbeitsgemeinschaft der freien Wohlfahrtspflege und alle Fraktionen der Bremischen Bürgerschaft. Joachim Steinbrück: "Besonders wichtig für mich war, dass Vertreterinnen und Vertreter behinderter Menschen aktiv an dem Entwurf des Aktionsplans mitgearbeitet haben und ihre Erfahrung sowie ihr Wissen als Expertinnen und Experten in eigener Sache einbringen konnten. Auch bundesweit ist diese Form der Beteiligung behinderter Menschen vorbildhaft."

Barrierefreiheit
Konkret heißt das unter anderem: Sämtliche Bahnhöfe in Bremen sollen zukünftig barrierefrei sein, wie Staatsrat Horst Frehe ausführte. Derzeit seien es 18 von 25. "Mit dieser Zahl haben wir bereits eine gute Ausgangssituation in Bremen", sagte er. In anderen Bundesländern sei nur ein vergleichsweise kleiner Teil der Bahnhöfe barrierefrei – verbunden mit entsprechenden Einschränkungen für die Bewegungsfreiheit Behinderter: "Rollstuhlfahrer können dort weder ein- noch aussteigen." Wichtig für die Teilhabe am öffentlichen Leben sei auch das Projekt "nette Toilette" das frei zugängliche WCs auch für behinderte Menschen vorhält – zumeist in der Gastronomie. Bislang sind dort 15 von 90 Toiletten barrierefrei, ihre Zahl soll sich mindestens verdoppeln.

Neu entstehende Wohnungen sollen grundsätzlich für Menschen mit Behinderung zugänglich sein. Damit werden rollstuhlgerechte und "sprechende" Aufzüge – mit Ansagen für Menschen mit Sehbeeinträchtigungen – in allen mehrstöckigen öffentlichen und privaten Neubauten Standard. Hauseingänge und Wohnungstüren müssen darin zudem breit genug für Rollstuhlfahrende sein. In der Landesbauordnung soll darüber hinaus eine feste Quote von Wohnungen festgeschrieben werden, die voll nutzbar sind für Menschen mit Behinderungen. Dazu gehört neben ausreichend breiten Türen zu allen Räumen auch genügend Platz in den Sanitärbereichen und ein schwellenloser Zugang zum Balkon.

Geschaffen werden soll eine verbindliche Quote für barrierefreie Hotelzimmer, die auch für Gäste mit Rollstuhl nutzbar sind. Wie hoch diese Quote sein wird, ist noch offen. Derzeit gebe es erhebliche Einschränkungen für Bremen-Gäste, die auf einen Rollstuhl angewiesen sind, sagte Horst Frehe: "Der einzige Ort in Bremen, wo eine Gruppe Rollstuhlfahrender sich treffen und übernachten können, ist die Jugendherberge mit sieben barrierefreien Zimmern." Mittel- bis langfristig ließen sich hier noch deutliche Verbesserungen erzielen, sagte der Staatsrat, Berlin habe zum Beispiel eine Quote von zehn Prozent.

Polizei
Die Polizei ist gehalten, ein standardisiertes Verfahren für den Fall zu entwickeln, dass ein Gehörloser gefesselt werden muss. Nach der UN-Behindertenrechtskonvention ist eine Fesselung zwar zulässig, sollte aber nur im äußersten Notfall erfolgen. Denn durch die Fesselung von Armen und Händen sind ihm die Möglichkeiten jeglicher Kommunikation genommen. Für den Bedarfsfall müsse die Polizei daher vorrangig andere Möglichkeiten prüfen und möglichst auch anwenden.

Arbeit
Unternehmen, die voll erwerbsgeminderte Beschäftigte anstellen, sollen künftig einen finanziellen Zuschuss bekommen. Er soll bis zu 70 Prozent des Bruttolohnes dauerhaft abdecken. "Arbeit ist für fast alle Menschen identitätsstiftend und hat starke Auswirkung auf das Selbstwertgefühl", sagte Horst Frehe, Staatsrat bei der Senatorin für Soziales, Kinder, Jugend und Frauen. "Außerdem ist sie einer der wichtigsten Lebensbereiche für Erwachsene in unserem Gemeinwesen. Damit nimmt sie eine Schlüsselfunktion in einer inklusiven Gesellschaft ohne Ausgrenzung ein." Dieses "Budget für Arbeit" sei zunächst für 20 Arbeitsplätze vorgesehen und solle die Beschäftigungsmöglichkeiten in den Werkstätten ergänzen, so der Staatsrat weiter. Das Modellprojekt soll durch Begleitforschung dokumentiert und evaluiert werden.

Gleichzeitig soll sich die Werkstatt für behinderte Menschen weiter öffnen – auch für Menschen, deren Beeinträchtigung so stark ist, dass sie "wirtschaftlich verwertbare" Arbeit auch im Sinne der Werkstätten nicht leisten könnten. "Auch für sie gilt nach der Behindertenrechtskonvention das gleiche Recht auf Arbeit und sie haben damit grundsätzlich einen Anspruch auf die gleiche soziale Absicherung wie bisher schon die Werkstattbeschäftigten. Es ist nicht gerechtfertigt, diese Personengruppe aus der Werkstatt auszugrenzen", betonte Joachim Steinbrück.

Darüber hinaus seien bundesrechtliche Änderungen dringend erforderlich: Die bereits bestehenden Werkstatträte sollen weitgehend die gleichen Rechte wie Personal- und Betriebsräte bekommen, und Frauenbeauftragte in den Werkstätten verbindlich eingerichtet werden. "Behinderte Frauen sind viel häufiger Gewalt ausgesetzt als nicht behinderte Frauen. Die Frauenbeauftragten, die hierfür speziell geschult werden, sollen von Gewalt betroffene Frauen unterstützen und einen Beitrag zur Gewaltprävention leisten", sagte Joachim Steinbrück. "Ich halte es für erforderlich, dass wir durch die Frauenbeauftragten und weitere Maßnahmen im Aktionsplan den Schutz für behinderte Frauen verbessern." Der Senat solle sich auf Bundesebene für die nötigen rechtlichen Änderungen einsetzen.

Wohnen
Eigenständige Wohnformen für behinderte Menschen sollen gezielt gefördert werden. Das Ziel: Behinderte sollen privat wohnen statt in Heimen untergebracht werden. Dazu bedarf es einer umfangreichen ambulanten Unterstützung mit 24-stündiger Rufbereitschaft. "Das schafft mehr Selbstbestimmung und individuelle Freiheit" sagte Horst Frehe. "Es wird die Lebenswelt vieler Menschen verändern und bereichern, die Wahrnehmung ihrer individuellen Freiheiten stärken und so institutionellen Entmündigungsprozessen entgegenwirken."

Bildung
Die schulische Inklusion soll Standards inklusiver Schule sowie einer Konzeption für Peer Groups von behinderten Schülerinnen und Schülern, durch mehr Barrierefreiheit, und auch im berufsbildenden Bereich weiterentwickelt werden. Auszubildende, die sich bislang im Berufsbildungswerk oder in Werkstätten qualifizieren, sollen auch ihren Platz an Berufsschulen finden. "Dafür müssen die rechtlichen Grundlagen und die fachlichen Standards geschaffen werden", sagte Joachim Steinbrück.

"Bremen hat eine lange Tradition der Wertschätzung behinderter Menschen", sagte Staatsrat Frehe abschließend. "Es ist mir ein großes Anliegen, dass die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention die Lebenssituation behinderter Menschen in Bremen wesentlich verbessert." Immer wieder habe das kleinste Bundesland eine Vorreiterrolle für das Zusammenleben mit behinderten Menschen gespielt – wenn auch nach teils heftigen Auseinandersetzungen. Als Beispiel nannte sie die Inklusion von Kindern in Kindergärten und Krippen, den Fahrdienst für Behinderte, die Einführung barrierefreier Busse und Bahnen, die Auflösung der Langzeitpsychiatrie im Kloster Blankenburg und deutlich mehr Autonomie bei Entscheidungen über Pflege und Assistenz. "Ich möchte, dass Bremen bei der Umsetzung der Menschenrechte Behinderter weiterhin die Spitze in Deutschland markiert und die volle, gleichberechtigte und selbstbestimmte Teilhabe für behinderte Menschen sicherstellt."

Weitere Maßnahmen in Stichworten:

  • Novellierung des Bremischen Behindertengleichstellungsgesetzes, des Bremischen Denkmalschutzgesetzes sowie der Bremischen Landesbauordnung und Überprüfung von weiteren Landesgesetzen
  • Schaffung eines Medizinischen Zentrums für erwachsene geistig und/oder mehrfachbehinderte Menschen
  • Prüfung technischer Möglichkeiten zur Erkennbarkeit einfahrender Linienbusse und Straßenbahnen für sehbehinderte Fahrgäste
  • barrierefreie Umgestaltung der Haltestellen für Linienbusse
  • Barrierefreie Fahrzeuge im Nahverkehr
  • mehr Öffentlichkeitsarbeit für die barrierefreie gynäkologische Praxis
  • Bedarfsdeckende und besser nutzbare öffentliche Behindertenparkplätze
  • zunehmende Barrierefreiheit in kulturellen Einrichtungen wie Museen und Theatern für Besucher, die sehbehindert, blind, gehörlos oder auf den Rollstuhl angewiesen sind
  • Flexiblere Nutzung des Sonderfahrdienstes für Menschen im Rollstuhl, die Busse und Bahnen nicht nutzen können
  • Aufnahme einer verbindlichen Quote von uneingeschränkt mit dem Rollstuhl nutzbaren Wohnungen in die Landesbauordnung
  • alle Büroarbeitsplätze in größeren Büro-, Verwaltungs- und Gerichtsgebäuden sollen barrierefrei sein
  • ein Leitfaden für barrierefreie öffentliche Hochbauten soll entwickelt werden
  • Angebote der Volkshochschule sollen inklusiv und damit allen Personengruppen zugänglich sein
  • Erprobung bilingualer Kitas mit Gebärdensprache- Dolmetscherinnen und Dolmetschern
  • Abbau von Barrieren in Schulen bei Modernisierung, Umbau und Instandhaltung
  • Barrierefreiheit und Hinweise auf Barrierefreiheit bei den anerkannten Weiterbildungseinrichtungen
  • Auszeichnung vorbildlichen betrieblichen Eingliederungsmanagements mit einem jährlichen Wettbewerb
  • Erprobung eines anonymisierten Bewerbungsverfahrens für bestimmte Bereiche
  • Anstellung von ausgebildeten Genesungshelferinnen und Genesungshelfern in der Psychiatrie
  • Mehr Barrierefreiheit in Sportstätten und Bädern, besonders bei Instandhaltung, Sanierung und Neubau
  • Umsetzung eines Modellvorhabens "Inklusion im Sport"
  • Vermeidung von freiheitsentziehenden Maßnahmen in Einrichtungen für alte und beeinträchtigte Menschen durch die "Ethische Fallbesprechung"
  • Mädchen und Frauen mit Beeinträchtigungen sollen barrierefrei bestehende Unterstützungsangebote / Einrichtungen im Bereich Gewalt aufsuchen können
  • Kooperation zwischen Beratungsstellen für Frauen und Beratungsstellen für behinderte Menschen
  • bessere therapeutische Angebote für Frauen mit kognitiver Beeinträchtigung
  • besserer Gewaltschutz bei Gewalt in Beziehungen, wenn die Täterin, der Täter die pflegende Person ist
  • Behördliche Bescheide in bürgernaher, leicht lesbarer Sprache verfassen

Weitere Informationen über die Behindertenrechtskonvention, die Erarbeitung des Aktionsplans sowie der Aktionsplan selbst sind zu finden unter
www.behindertenbeauftragter.bremen.de/sixcms/detail.php?gsid=bremen55.c.4164.de

Foto: Senatspressestelle