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Senatskanzlei

Kindeswohl hat Vorrang: Jugendhilfesystem wird verbessert

08.01.2007

Bürgermeister Jens Böhrnsen und Sozialsenatorin Ingelore Rosenkötter stellen Handlungsrahmen und Maßnahmen-Paket vor

Nach dem schrecklichen Tod des zweijährigen Kevin hat das Sozialressort mit Sofortmaßnahmen sichergestellt, dass bei rund 1.000 anderen Bremer Kindern in sogenannten Risikofamilien, die dem Jugendamt bekannt sind, keine aktuelle Gefährdung des Kindeswohls vorliegt. Die 79 Fälle, die der Sozialarbeiter von Kevin betreute, sind zudem gesondert überprüft worden. Darüber hinaus hat Staatsrat Ulrich Mäurer auf Bitte von Bürgermeister Jens Böhrnsen eine umfangreiche Dokumentation zum Fall Kevin erstellt, die neben deutlichen Hinweisen auf individuelle Fehleinschätzungen und Fehlentscheidungen von Mitarbeitern auch strukturelle Mängel im bremischen Jugendhilfesystem aufgezeigt hat. Inzwischen hat auch die Innenrevision der Sozialbehörde Strukturen, Verfahrensabläufe und Ausstattung der kommunalen Jugendhilfe unter die Lupe genommen.

Vor diesem Hintergrund hat Sozialsenatorin Ingelore Rosenkötter heute (8.1.2007) einen Handlungsrahmen ihres Ressorts mit Maßnahmen vorgelegt, mit denen die Jugendhilfe zum Schutz von Kindern vor Vernachlässigung und Misshandlung verbessert werden soll.

„Wir haben uns in Bremen fest vorgenommen, eine Wiederholung einer solchen Leidensgeschichte, wie Kevin sie erdulden musste, unmöglich zu machen“, betonten während der Pressekonferenz Bürgermeister Jens Böhrnsen und Senatorin Rosenkötter. Mit den vorgestellten Maßnahmen werde das aus ihrer Sicht notwendige Programm der nächsten Wochen und Monate umrissen, um nachhaltige organisatorische und strukturelle Verbesserungen zu erreichen. Oberste Maxime sei dabei, das Wohl der Kinder zu gewährleisten.

Aufgrund offenbar gewordener struktureller Mängel sei es unumgänglich, organisatorische Veränderungen unverzüglich einzuleiten, so dass Fälle von Kindeswohlgefährdung nicht nur schnell festgestellt, sondern auch die zur Verfügung stehenden Hilfemaßnahmen unverzüglich, das heißt ohne Zeitverlust, eingeleitet werden können.

Nach Angaben der Senatorin haben sich im Fall Kevin neben den Fragen der individuellen Verantwortung einzelner Beteiligter vor allem Defizite in der Kommunikation und in der Zusammenarbeit der beteiligten Stellen gezeigt, aber auch bei der Risikoanalyse, bei der Um- und Durchsetzung vereinbarter Maßnahmen und bei der Kontrolle durch die vorgesetzten Stellen.

Einige der Maßnahmen zur Verbesserung des Hilfesystems
ausführlich dargestellt im beiliegenden Maßnahmen-Papier):

  • Entscheidungen nicht nur nach Aktenlage
    Eine engere personelle Nähe der/ Sozialarbeiterin/des Sozialarbeiters zum betroffenen Kind soll sichergestellt werden. Dazu werden verbindliche Standards eingeführt, wie etwa die regelmäßige Inaugenscheinnahme der Kinder durch fachkundige Personen oder die Einbeziehung aller relevanten Informationen über das Kind und das familiäre Umfeld auch von anderen Behörden.

  • Kontrolle und Qualitätssicherung verbessern
    Die Entscheidungen der Fallmanager müssen jederzeit transparent und nachvollziehbar sein. Dies erfordert unter anderem eine Aktenführung, die es ermöglicht, sich mit den wesentlichen Faktoren eines Falles vertraut zu machen. Die bisher weitgehend übliche Aktenführung erfüllt diese Anforderungen nicht und muss grundlegend verbessert werden. Die Leitungsebenen sind gehalten, ihre Kontroll- und Führungsaufgaben im Rahmen ihrer Dienst- und Fachaufsicht wahrzunehmen.

  • Verbindlichen Handlungsleitfaden erstellen
    Die Umsetzungsqualität der bestehenden Dienstanweisungen und fachlichen Weisungen muss entscheidend verbessert werden. Dabei muss das Wohl des Kindes im Zentrum allen Handelns stehen. Es wird ein Handlungsleitfaden zum Umgang mit Kindeswohlgefährdung erstellt.

  • Auflagen in der Hilfeplanung durchsetzen
    In der Hilfeplanung festgelegte Auflagen für die Eltern müssen konsequent durchgesetzt werden. Es kommt nur dann in Betracht, ein Kind beispielsweise bei drogenabhängigen Eltern zu belassen, wenn das Jugendamt und gegebenenfalls der Amtsvormund das Verhalten der Eltern genauestens kontrollieren.

  • Notruftelefon mit nachgelagertem Krisensystem wird eingerichtet
    Das Jugendamt wird noch im Januar ein Notruftelefon rund um die Uhr einrichten. Hier sollen fachkundige Personen immer erreichbar sein, um Meldungen von Kindeswohlgefährdung - sei es bei schon bekannten Fällen als auch bei bisher unbekannten Kindern - aufzunehmen. Bis zum April/Mai 2007 wird ein nachgelagerter Krisendienst geschaffen, der unverzüglich den Sachverhalt durch persönlichen Kontakt zur Familie klärt.

  • Generelle Erreichbarkeit im Jugendamt verbessern
    Die Erreichbarkeit des Jugendamtes wird verbessert, um eingehenden Meldungen über eine mögliche Kindesgefährdung unmittelbar nachgehen zu können.

  • Einrichtung eines Clearing-Ausschusses
    Ein interdisziplinärer Clearing-Ausschuss wird sich mit der Hilfeplanung für Kinder beschäftigen, bei denen erhebliche erzieherische und gesundheitliche Risikofaktoren vorliegen und das Kindeswohl gefährdet ist oder gefährdet scheint.

  • Amtsvormundschaften stärken
    Die Leistungsfähigkeit der Amtsvormundschaft muss verbessert werden. Maßstab ist der quantitative Durchschnitt der Fallzuständigkeit der Jugendämter in der Bundesrepublik. Dies macht eine weitere Aufstockung um zwei Stellen auf dann 6 ½ Stellen unumgänglich.

  • Strafanzeige beim Verdacht auf Kindesmisshandlungen
    Für die Mitarbeiter/innen des Amtes für Soziale Dienste gilt künftig die Verpflichtung, bei einem Verdacht auf Kindesmisshandlung auch die Staatsanwaltschaft einzuschalten und Strafanzeige zu stellen.

  • Verbindliche Vorsorgeuntersuchungen
    In zwei Entschließungen des Bundesrates wurde mit der Unterstützung des Landes Bremen die Bundesregierung aufgefordert, die Teilnahme an Früherkennungsuntersuchungen für alle Kinder im Alter von einem halben Jahr bis fünfeinhalb Jahren verbindlicher zu gestalten bzw. zur Rechtspflicht zu erheben. Wenn auf Bundesebene nicht zeitnah entsprechende Regelungen getroffen werden, soll es eine bremische Lösung geben.

  • Stärkung von Unterstützungsprogrammen für Schwangere und Eltern von Neugeborenen
    Die Familienhebammen des öffentlichen Gesundheitsdienstes leisten in Bremen bereits heute mit der Betreuung und Unterstützung von Risikofamilien nach der Geburt eines Kindes durch Hausbesuche einen wichtigen Beitrag zur Kindeswohlsicherung. Dieser Bereich soll personell verstärkt werden. Das Land Bremen wird sich zudem an dem Projekt des Bundes und der Stiftung „Pro Kind“ zum Einsatz eines ergänzenden Familienhebammenprogramms bei jungen Schwangeren und jungen Müttern mit ihrem ersten Kind beteiligen.

Der Bürgermeister und die Senatorin stellen unmissverständlich fest: „Ein wirksamer Schutz von Kindern muss notfalls auch gegen die eigenen Eltern durchgesetzt werden. Das Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit hat Vorrang gegenüber dem Elternrecht. Für Kinder, die in ihren Familien keine ausreichende Unterstützung bekommen oder sogar Gewalt erfahren, hat der Staat - mit seinem im Grundgesetz festgelegten Wächteramt - eine besondere Verantwortung. Das Elternrecht findet seine Grenzen, wo das Kindesrecht verletzt wird.“

Bis zur Sitzung des Jugendhilfeausschusses am 17. April 2007 wir ein mit allen Beteiligten abgestimmtes Präventionskonzept vorliegen, in dem auch der zusätzliche Personalbedarf und notwendige zusätzliche Sachmittel für die dargestellten Maßnahmen konkretisiert werden.

Anlage
Maßnahmen-Paket